Schlagwortarchiv für: Bionik

Wie Organisationsbionik dem CTO als Change Manager hilft

Ich habe über Organisationsbionik gesprochen! Aber nicht allein, sondern mit Wolfgang Beeck und Thomas Jenewein im EducationNewsCast Podcast.

Im Podcast sprechen wir gemeinsam darüber, wie Wolfgang und ich erfolgreich Prinzipien aus unserem Business-Roman Zellkultur auf die Beschleunigung einer erfolgskritischen Entwicklung bei Regnology Group GmbH übertragen haben.

Kurzfassung

Es gibt einiges zu erfahren in unserem Podcast. Zu Beginn gebe ich ein paar Beispiele darüber, wie die Natur bereits in der Vergangenheit Managementtheorien beeinflusst hat. Selbst Niklas Luhmann bediente sich Begrifflichkeit aus der Biologie, wie natürlich aus Stafford Beer und sein Viable System Model. Im Kern geht die Episode aber um angewandtes Change Management und operative Exzellenz in einer agilen Entwicklungsumgebung. Wolfgang zeigt auch auf, weshalb ein CTO neben dem Fokus auf Technisches, zugleich auch Change Agent sein sollte.

Es gibt viele spannende, konkrete Beispiele aus der Praxis zu hören, wie die Optimierung von Tests und Testsystemen oder wie wir die Performance, mithilfe katalytischer Beschleunigung von Arbeitsprozessen verbessern konnten. Außerdem erfahrt ihr was es mit dem Schaffen besserer Arbeitsbedingungen auf sich hat. Als bekennender Praktiker ist mein früherer Kunde Wolfgang überzeugt, dass ihm unsere Organisationsbionik dabei geholfen haben, die ambitionierten Ziele seiner Entwicklungsorganisation zu erreichen.

Reinhören

Wer Lust hat reinzuhören, kann dies hier tun:
🎧 openSAP https://lnkd.in/e33BgVK3
🎧 Apple https://lnkd.in/ech3Y3ne
🎧 Spoitfy https://lnkd.in/dZQ75tU
🎧 Google https://lnkd.in/e7mWfddC


Organisationsbionik – Organisationen nach dem Vorbild der Natur gestalten

Zusammenfassung für eilige Leser
Es gibt eine Vielzahl an Erklärungsmodellen für Organisationen, aus der Soziologie, Psychologie oder den Betriebswirtschaft. Einen vielversprechenden Blick liefert der Blick in die Natur. Der Artikel erklärt, wie Bionik für organisatorische Fragestellungen gelingen kann und welche bekannten Ansätze von natürlichen Vorbildern inspiriert wurden.

Organisationen verstehen

Unternehmensorganisationen lassen sich auf vielfältige Art und Weise begreifen: Für Soziologen ist sie das Ergebnis eines Zusammenspieles aus sich selbst erzeugender Kommunikation. Der Betriebswirtschaftler denkt klassisch an den Dualismus aus Aufbau – und Ablauforganisation. Also einmal Kästchen von oben nach unten (Hierarchie) und einmal Kästchen von links nach rechts (Prozesse). Der Organisationspsychologe hingegen blickt auf den Kontext der Organisation und seine Auswirkungen auf das Handeln des Individuums.

Sicherlich gibt es noch viele andere Denkschulen, die sich mit der Frage befassen, wie Organisationen zu verstehen sind. Denn eines ist allen gemein: Sie liefern nur einen eng gefassten Blick auf Organisationen, der für sich sicher richtig ist, jedoch das große Ganze einer sozialen Organisation niemals einfangen kann. In diesem Artikel beleuchte ich welchen Beitrag die Organisationsbionik liefern kann, um uns zu einem gesamtheitlichen Verständnis von Organisationen helfen kann.

Was ist Organisationsbionik?

Den Begriff Bionik haben die meisten Menschen wohl schon gehört – irgendetwas mit Natur. Genau: Bei der Bionik handelt es sich um die Wissenschaft zur Lösung technischer Probleme nach dem Vorbild der Natur. Wir alle kennen technische Erfindungen, die ursprünglich aus der Ideenkiste von Mutter Natur stammen: Klettverschluss, Lotus-Effekt, Sonar oder Flugzeugtragflächen. In jüngster Vergangenheit lernen wir aber nicht nur Bauprinzipien abzuschauen, sondern auch natürliche Abläufe zu nutzen: Leichtgewichtbauteile werden nach dem Wachstum des Schleimpilzes am Computer erzeugt. Der Reiz der bionischen Forschung ist offenkundig: Alles, was wir in der Natur beobachten können, ist durch Jahrmillionen natürlicher Auslese verfeinert und perfektioniert worden. Damit sind natürliche Vorbilder in einem Reifegrad angekommen, den technische Innovationen sonst nicht liefern können.

Ist es bei all den technischen Durchbrüchen nicht naheliegend, dass die Natur uns auch etwas darüber beibringen kann, wie Organisationen gestaltet werden sollen? Genau dieses Teilgebiet ist die sogenannte Organisationsbionik. Sie versucht organisatorischen und gesellschaftlichen Fragestellungen anhand der Beobachtung der Natur zu beantworten.

Gefahren und Chancen der Organisationsbionik

Wir alle kennen weitverbreitete Beispiele wie Bienenschwärme und Wolfsrudel. Doch inwiefern lassen sich die Herausforderungen moderner Organisationen in einer digitalisierten Welt durch Erkenntnisse aus der Beobachtung von Tieren lösen?

Ich halte diese Skepsis für gerechtfertigt. Ich bin überzeugt, dass Analogien aus der Natur immer mit Bedacht behandelt werden sollen. Denn die zugrunde liegende Annahme ist ja, dass wir eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Betrachtungsgegenständen (also z. B. einem Bienenschwarm und Abteilung) unterstellen. Ist diese Ähnlichkeit nicht gegeben, begehen wir einen Fehlschluss, der keinen Mehrwert liefern kann. Gut, abgesehen von einem gewissen Unterhaltungswert natürlich. Denn die Natur schreibt zweifellos spannende Geschichten und liefert schillerndes Anschauungsmaterial.

Es ist offensichtlich: Bei der Organisationsbionik werden zwangsweise unterschiedliche Objekte und Phänomene miteinander verglichen, deren Ähnlichkeit bezweifelt werden darf. Die Kunst ist es also, sich weniger auf offensichtliche Ähnlichkeiten zu stützen, sondern abstrakte Wirkprinzipien zu erkunden, die eine ausreichende Gültigkeit für beide Objekte besitzen. Amüsant, denn auf diese Gefahr wird sogar von staatlicher Seite hingewiesen: das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag warnt sogar vor naiven Analogien und Sozialdarwinismus bei der Übertragung von natürlichen Beobachtungen auf gesellschaftliche Fragen [1].

Wie kann man von der Natur lernen?

Um bewusster mit den Grenzen der Analogienfindung umzugehen, wenden wir uns kurz den Arten des bionischen Lernens zu, das auf dreierlei Art erfolgen kann [2]:

Erstens: Das Lernen von den Ergebnissen der Evolution

Dies ist die klassische Domäne der Bionik. Es werden Ergebnisse, sprich Lebewesen, Phänomene und Strukturen beobachtet und auf technische Lösungen übertragen. Das mag bei technischen Anwendungen problemlos funktionierten, birgt im Rahmen der Organisationsbionik doch erhebliche Gefahren. Denn bei einer technischen Innovation wird versucht, das natürliche Vorbild exakt nachzubilden, indem physikalische Strukturen nachempfunden werden. Die notwendige Ähnlichkeit zur Übertragung ist hier nicht Grundvoraussetzung, sondern Ziel des Vorhabens.

In der Organisationsbionik hingegen kann es aber kaum die Absicht sein, die natürliche Struktur des Bienenschwarms exakt nachzuempfinden. Niemand würde ernsthaft versuchen ein möglichst vergleichbares Sozialgefüge zu installieren. Das funktioniert allein deshalb schon nicht, da die für die Zielorganisation konstituierenden Elemente einander nicht ähnlich sind: Bienenschwärme bestehen aus Königinnen, Arbeiterinnen und Drohnen, menschliche Organisationen hingegen aus Menschen.

Zweitens: Das Lernen vom Evolutionsprozess

Hier geht es darum, den Prozess der Evolution selbst zu nutzen, sprich Verfahren und Algorithmen zu entwickeln, die auf Selektionsmechanismen á la Darwin basieren. Da es hier bereits um „Wie“ anstelle von „Was“-Fragestellungen handelt, bin ich der Meinung, dass diese auch für organisatorische Fragestellungen nutzbar sind. Dass die darwinsche Idee einen universellen Charakter hat, der weit über biologische Fragestellungen hinaus Antworten liefert, ist heute anerkannt [3]. Evolutionsalgorithmen sind deshalb heute bereits verbreitet, wenn es um Optimierungsprobleme geht, denen man durch wiederholte Selektion versucht anzunähern. Lose übertragen kann man den verbreiteten Deming-, oder auch PDCA-Zyklus zur Prozessoptimierung hier einordnen: Denn nach jeder Veränderung (Mutation) in Form der Do-Phase, folgt eine Check-Phase, in der die tatsächlichen Ergebnisse evaluiert werden. Sind diese nicht ausreichend gut, wird der Lösungsansatz selektiert und ggf. eine neue Optimierungsrunde eingeleitet (Act-Phase)

Drittens: Das Lernen von den Prinzipien der Evolution

Die dritte Art des Lernens geht es um die Nutzbarmachung grundlegender Prinzipien der Natur, wie z. B.: Selbstorganisation, Autopoiesis, Rekursion oder der Modularität. Aus meiner Sicht ist diese Art des Lernens ein Sonderfall der ersten Methode, indem man sich auf die Zusammenhänge und Interaktionen bei der Beobachtung von natürlichen Vorbildern fokussiert – dem „Wie“. Denn aus einem Verständnis der Abläufe lassen sich abstrakte Prinzipien ableiten, die wiederum breiter übertragbar sind. Ich persönlich halte die Gewinnung von natürlichen (Erfolgs-)Prinzipien für sehr ergiebig, da mir meine mittlerweile fast 10 Jahre andauernde Lernreise eines gezeigt hat: Das natürliche Prinzipien zwingende Notwendigkeit besitzen – und zwar für alle lebenden Systeme (und Organisationen).

Beispiele für organisationsbionische Ansätze

Im Folgenden habe ich eine ausgewählte Liste an mir bekannten Organisationsansätzen zusammengetragen. Die Reihenfolge ist grob chronologisch von alt zu neu erfolgt. Vermutlich werden Sie auch überrascht sein, den einen oder anderen Ansatz hier zu finden, da dessen Begründer sich sicherlich nicht als Organisationsbioniker verstehen würde. Außerdem kommentiere ich kurz, wie viel Inspiration aus der Natur Einfluss in den jeweiligen Ansätzen steckt. Eine fehlende Übertragung vom natürlichen Vorbild ist selbstredend kein Kriterium für fehlende Wirksamkeit sein, ist aber damit keine bionische Analogie im engeren Sinne mehr.

Viable System Model von Stafford Beer

Bereits in den späten 1960er-Jahren formuliert, ist das Viable System Model (abgekürzt VSM) das älteste Management-System nach dem Vorbild der Natur [4]. Erfunden vom Management-Kybernetiker Stafford Beer ist das VSM ein generisches Referenzmodell für jede Art von Organisation, mit dem Gedanken, diese überlebensfähig zu machen. Beer spricht selbst davon, dass das VSM dem menschlichen Zentralnervensystem nachempfunden ist. Das VSM teilt das zu steuernde System in fünf Subsysteme ein, die alle einen bestimmten Beitrag zum lebensfähigen Gesamtsystem liefern. Man erkennt hier deutlich, dass Beer einen operativen Managementhintergrund hatte. Die fünf Systeme von Produktion bis hin zum Management, wirken eher wirtschaftswissenschaftlich als biologisch. Trotz seines Alters hat das VSM bis heute überdauert, wird erfolgreich angewandt und hat unter anderem auch das St. Gallener Management-Modell maßgeblich beeinflusst.

Nun, das VSM ist sicherlich nicht zu Unrecht in dieser Liste. Doch ist es aus meiner Sicht weniger bionisch angehaucht, als es den Anschein macht. Die Ähnlichkeiten zu einem menschlichen Nervensystem sind als anekdotisch einzustufen. Denn sie beziehen sich häufig eher auf anatomische Ähnlichkeiten („Was“) anstelle der Funktionalität („Wie“). Das mag auch am begrenzten Wissen über die Wirkungsweise unseres Nervensystems Mitte des letzten Jahrhunderts liegen. Auf der anderen Seite finden sich natürliche Prinzipien wie die Rekursion oder Autopoiesis darin wieder, die aus dem Repertoire der Natur kommen. Praktisch liefert es aus meiner Sicht sehr hilfreiche Ansätze zur Strukturierung und Gestaltung von Organisationen, gerade wenn es darum geht Organisationseinheiten mit einem optimalen Handlungsspielraum auszustatten (siehe auch [5]).

Eine Abschlussbemerkung: Obwohl ich ein echter Fan des VSM bin, ist gerade der Name des Modells irreführend: Viable System Modell, also überlebensfähiges Systemmodell. Doch wie auch viele andere Denker, die durch die kybernetische Denkschule des 20. Jahrhunderts beeinflusst wurden, konnte Beer mit seinem Model nicht die Lebensfähigkeit von Organisationen erklären. Denn das wäre so, als ob man behauptet, ein Nervensystem ist überlebensnotwendig. Das würde Pilzen, Bäumen und anderen einzelligen Lebewesen aber sicherlich Unrecht tun, die hervorragend ohne diese Einrichtung zurechtkommen.

Systemtheorie nach Niklas Luhmann

Ja, vermutlich ist der eine oder die eine überrascht, die Systemtheorie nach Niklas Luhmann hier zu finden, doch ich habe dafür meine Gründe. Herr Luhmann ist ja dafür bekannt, über Jahrzehnte einen recht umfassenden Erklärungsansatz für die Beschreibung von komplexen sozialen Organisationen (oder Systemen) verfasst zu haben. Nicht nur hat er erkannt, dass die Differenz zwischen Dingen notwendig ist, um überhaupt etwas erkennen zu können und definiert Systeme als die Differenz seiner Umwelt. Ein System hat demnach unterscheidbare Eigenschaften gegenüber seiner Umwelt, die in der Beziehung zwischen seinen Elementen zu finden sind. Diese Beziehung ist die Kommunikation bzw. Interaktionen innerhalb einer sozialen Organisation. Kommunikation erzeugt wiederum neue Kommunikation usw. wodurch das soziale System „am Leben bleibt“. Und an dieser Stelle ist Luhmanns Blick in die Natur offenkundig: Denn Luhmann verwendet den Begriff der Autopoiesis, die ein zentrales Prinzip der Systemtheorie ist und interpretiert ihn im Sinne der Sozialwissenschaften [7]. Denn Autopoiesis bezeichnet die sogenannte Selbsterzeugung (griech. autos = selbst und poiesis = erzeugen) von Lebewesen und lebenden Systemen und wurde erstmals durch die Biologen Humberto Maturana und Franceso Varela geprägt [8]. Luhmanns Erkenntnis: Soziale Systeme verarbeiten kontinuierlich Sinn und operieren auf Basis von Kommunikation, während Biologische materielle Ressourcen verarbeiten und auf Basis von physikalisch-chemischen Prozessen operieren. Beide sind somit auf ihre Art autopoietisch.

Luhmann hat mit der Integration des biologischen Prinzips der Autopoiesis eine Ähnlichkeit zwischen Lebewesen und sozialen Organisationen gezogen. Er ging sogar so weit zu sagen, dass nichts in der Soziologie Sinn ergebe, betrachte man es nicht im Lichte der Autopoiesis [6]. Ich werte das als Anerkennung dafür, dass soziale Organisationen im übertragenen Sinne virtuelle Lebewesen sind. Damit gehört die luhmannsche Systemtheorie in meinen Augen zurecht auf diese Liste, von der Natur inspirierter Ansätze.

Synergetik von Herman Haken

Die Synergetik ist die interdisziplinäre Theorie der Selbstorganisation, die in der Natur in vielfacher Weise beobachtet werden kann, bspw. beim Wachstum von kristallen Wellenstrukturen, Wolkenmuster, Dünen bis hin zur Zellbildung. Die Synergetik ist in den 1970er-Jahren aus der statistischen Physik der Nichtgleichgewichtssysteme hervorgegangen und behandelte zunächst nur physikalische Systeme. Ziel ist es, Prinzipien der natürlichen Selbstorganisation in dynamischen, komplexen Systemen zu ergründen, z. B. die durch die Wechselwirkung gleicher Elemente innerhalb dieser Systeme entsteht. In bionischer Manier überträgt die Synergetik seit ihrer Begründung physikalische Beobachtungen auf anderen Wissenschaftsdomänen wie der Soziologie, Psychologie, aber auch der Managementlehre [9].

Die Synergetik liefert damit einen bionischen Erklärungsansatz für die Ausprägung von Selbstorganisation im Organisationsumfeld. Anstelle starrer hierarchischer, sollen flache veränderliche Organisationsstrukturen folgen, die durch verteilte Intelligenz Entscheidungen treffen. Durch die Wahl der richtigen Ordnungsparameter durch eine höhere Instanz, soll das Management geeignete Ausgangsbedingungen für die Selbstorganisation im Unternehmen schaffen.

Zellstruktur-Design von Nils Pfläging und Silke Hermann

Das Zellstruktur-Design verspricht ein modernes Managementsystem bzw. Open Source Sozialtechnologie nach dem Vorbild der Zelle [10]. Der Ansatz verbindet eine Vielzahl an 12 Beta-Kodex und 12 Zellstruktur-Design-Prinzipien. Ich bin der Meinung, dass die Prinzipien für sich alle nicht grundlegend falsch, aber losgelöst voneinander sind. Insbesondere fällt auf, dass der Ansatz und seine Prinzipien aber außer einer augenscheinlichen Ähnlichkeit mit einer Zelle, keine tiefergehenden Übertragungen enthält. Die wenigen Ähnlichkeiten sind der Übertragung von anatomischen Strukturen („Was“) entsprungen, was wie eingangs beschrieben im Kontext von Organisationen nicht zielführend ist. Das eine Zelle rund ist, und ein Innen und Außen hat stimmt zwar, jedoch ist die Lernmöglichkeit daraus für Organisationen überschaubar. In seiner Gesamtheit ist für mich der Zellstruktur-Design-Ansatz eher ein Potpourri moderner Managementphilosophie von Selbstorganisation bis hin zur Agilität.

Sonstiges: Fraktale, Bienenwaben und andere Organisationsmodelle

Vor einiger Zeit titelte ein Artikel der Corporate Rebels: „10 progressive Organisationsstrukturen, die von echten Unternehmen entwickelt wurden“ [11]. Spannend war dabei für mich, dass davon die Hälfte nach Strukturen benannt worden sind, die in der Natur vorkommen, darunter: Amöben, Zellen, Fraktale, Bienenwaben und Gittermuster.  Sobald man dann in die Beschreibungen der einzelnen Organisationsstrukturen eintauchte, stellte man fest, dass die Benennung nach ihrem natürlichen Vorbild eher erzählerischem Ursprung ist. Denn egal ob Amöben, Fraktale oder Bienenwaben immer ging es darum, dass es kleinere (mehr oder weniger) autonome Einheiten im Unternehmen gab. Diese selbstorganisierten Einheiten waren gegenüber dem Gesamtunternehmen klein (5 bis 50 Mitarbeiter), und selbst für ihre Profitabilität verantwortlich. Bionisch betrachtet ist auch die Zelle eines Lebewesens eine autonome lebensfähige Einheit. Zellen sind jedoch im Verbund (als Teil eines Organismus) zumeist stark spezialisiert und somit nur in Symbiose mit dem restlichen Zellverbund lebensfähig ist. Je nachdem ob die genannten Organisationseinheiten also miteinander als Ganzes operieren oder (z. B. wie bei Kyoceras Amöben) autonom und im Wettstreit bleibt die bionische Analogie fragwürdig. Auch Insektenschwärme, die gerne als Super-Organismen bezeichnet werden gibt es keinen inneren Wettbewerb zu beobachten. Folglich ist anzunehmen, dass die Namensgebung dieser Organisationsmodelle eher zufällig ist und weniger von einer überlegten Übertragung aus der Natur herrührt.

Viable Business von Clemens Dachs

Die Eigenschaft aller lebenden Systeme (Lebewesen und Organisationen), sich selbst zu erzeugen, ist die Autopoiesis. Sie ist für Leben zentral, denn ohne Autopoiesis kein Wachstum und ohne Wachstum kein Leben. Doch beschäftigt man sich eingehender mit der Autopoiesis stellt fest, dass diese von den Vordenkern des letzten Jahrhunderts nicht erklärt werden konnte.

Im Jahre 2013 wurde von Clemens Dachs Idee geboren, dass Organisationen doch wie Lebewesen funktionieren müssten. Denn Lebewesen haben viele positive Eigenschaften, die sich Unternehmen heute wünschen: Schnelles Wachstum, inneres Gleichgewicht und eine über Jahrmilliarden bewährte Anpassungsfähigkeit. Doch anstelle sich mit ausgewählten Lebensformen zu beschäftigen, wählte Dachs einen bisher eher ungewöhnlichen Beobachtungsgegenstand: die Zelle. Denn egal ob Mensch, Tier, Einzeller oder Pflanze auf molekularer Perspektive ist jede Lebensform gleichartig aufgebaut. Die Zelle ist der kleinste gemeinsame Nenner des Lebens. Wirkliche Lebensfähigkeit von lebenden Systemen kann also nicht mit einem Nervensystem (vgl. VSM) erläutert werden, sondern indem man die molekularbiologischen Dynamiken jeder Art von Leben entschlüsselt. Es geht somit nicht darum, die Struktur der Zelle zu verstehen, sondern die zugrundeliegende Funktion, die Autopoiesis bedingt („Wie“). Die These dahinter: Sind die funktionalen Wirkprinzipien verstanden, sollten diese sich auch auf andere lebende Systeme, wie Organisationen übertragen lassen.

Die Ergebnisse der Forschungs- und praktischer Anwendungsarbeit führten Dachs 2020 zur erfolgreichen Dissertation über „Viable Project Business – A Bionic Management System for Large Enterprises“ [12], 2021 zu unserem gemeinsamen Business-Roman „Zellkultur“ [13] und in diesem Jahr zu einem kleinen, kurzweiligen Theoriebüchlein, „Autopoiesis“ genannt [14]. 

Gegenstand all dieser Werke ist die Beschreibung eines bionischen Management-Systems, dass auf logisch aufeinander aufbauenden Prinzipien beruht. Und zwar fundamentalen Wirkprinzipien, die im Zusammenspiel die lebensfähige Dynamik erzeugen, die Autopoiesis überhaupt erst ermöglicht. Die spannende Erkenntnis: Lebewesen sind nur in ihrer Gesamtheit im Gleichgewicht (Homöostase), weil ihre gesammelten inneren Abläufe selbstverstärkend, also exponentiell ablaufen (Katalyse). Was erstmal wie ein Paradoxon klingt, ist der grundlegende Bauplan des Lebens, der Leben physikalisch überhaupt erst möglich macht. Denn Clemens Dachs Theorie beginnt ganz unten: bei der Betrachtung der physikalischen Rahmenbedingungen unseres Universums. Denn diese Notwendigkeiten brachten in Folge die lebendige Dynamik hervor, die wir unverändert seit Jahrmilliarden in Zellen aller Art vorfinden.

Mit meiner Hilfe übersetzten und implementierten diese Beobachtungen in den letzten Jahren, um diese praktisch in Unternehmen nutzbar zu machen. Dabei zeigte sich Erstaunliches: Selbst Erfolgsprinzipien verbreiteter Managementansätze wie Lean, Agile und Theory of Constraints, lassen sich in lebenden Zellen wiederfinden. Sie sind, richtig kombiniert, Bausteine einer wachstumsfördernden Dynamik. Es ist also denkbar, dass der bionische Funktionsplan des Lebens eine geeignete Landkarte ist, um bekannte und erfolgreiche Methoden der Unternehmensführung, zu einem widerspruchsfreien Ganzen zusammenzufügen.

Aus Sicht der Bionik ist der Dachse Ansatz ein fundierter Versuch, vom „Wie“ des Lebens zu lernen, um Organisationen lebensfähig in einer sich veränderlichen Umwelt zu gestalten. Durch das erstmalige Verständnis der Autopoiesis selbst, können Unternehmen ihr Wachstum fördern, indem sie die nötigen Dynamiken nach dem Vorbild der Natur erzeugen. Damit bietet der Ansatz das Potenzial, die Denkweise darüber, wie Organisationen verstanden werden, grundsätzlich zu revolutionieren.

Und was kommt nach der Analogie?

Alles was gegen die Natur ist hat auf Dauer keinen Bestand.

-Charles Darwin

Ich bin der Überzeugung, Darwins Zitat bringt es auf den Punkt. Die Natur ist so ideenreich, wie genial. Seit Milliarden von Jahren schafft sie Organisationsformen in einer unvorstellbaren Komplexität und Vollkommenheit. Ich glaube daher, dass es sich lohnt, wieder ganz genau hinzusehen. Hinzusehen, um die verborgenen Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln und für eine neue Generation der Unternehmensführung nutzbar zu machen. Eine Generation an Unternehmen, die sich die unumstößlichen Naturprinzipien aller lebenden Systeme zu eigen macht, um bessere Organisationen zu schaffen – und zwar für Mensch und Natur.

Denn jedes System, dass sich nicht im Einklang mit seiner Umwelt befindet, wird früher oder später vergehen. Und das gilt es für jedes lebende System, auch Organisationen tunlichst zu vermeiden.

P.S.: Ich biete Organisationsentwicklung auf Basis moderner Organisationsbionik an, um unternehmerische Herausforderungen zu lösen. Mehr dazu hier: Home

Literaturhinweise

[1] A. von Geich, C.Pade, I. Petschow, E. Pissarskoi (2007) Bionik: Aktuelle Trends und zukünftige Potentiale
[2] https://rp-online.de/leben/beruf/was-manager-von-woelfen-lernen-koennen_aid-11304637
[3] D.C. Bennet (1995): Darwins’s dangerous idea [Link] http://www.inf.fu-berlin.de/lehre/pmo/eng/Dennett-Darwin’sDangerousIdea.pdf
[4] S. Beer (1995): Brain of the firm
[5] M. Pfiffner: Die dritte Dimension des Organisierens: Steuerung und Kommunikation
[6] Luhmann, Baecker (2017): Einführung in die Systemtheroie
[7] D. M. Rodríguez, J. N. Torres:  Autopoiesis, die Einheit einer Differenz: Luhmann und Maturana; abrufbar unter: https://publications.iai.spk-berlin.de/servlets/MCRFileNodeServlet/Document_derivate_00001130/BIA_116_079_108.pdf
[8] H. Maturana, F.J. Varela (1980): Autopoiesis and Cognition
[9] H. Haken, G. Schiepek (2010): Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten
[10] N. Pfläging, S. Hermann (2020): Zellstruktur-Design
[11] https://corporate-rebels.com/progressive-organizational-structures/
[12] C. Dachs (2021) Viable Project Business – A bionic Management System for Large Enterprises
[13] C. Dachs, Moritz Hornung (2021): Zellkultur – Ein Business-Roman über bionisches Organisationsdesign [mehr dazu hier: business-surivalist.com/zellkultur-business-roman]
[14] C. Dachs (2022): Autopoiesis

Konzentration, bitte! Mehr bewirken in kürzerer Zeit

Zusammenfassung für eilige Leser
Eine hohe Konzentration ist nicht nur notwendig, um Leben zu ermöglichen. Es ist auch ein grundlegendes Prinzip, dass auf die Nutzung der eigenen Zeit übertragen werden kann, denn Konzentration und Geschwindigkeit von Abläufen hängen direkt zusammen. Je höher die Konzentration innerhalb eines Systems, desto kürzer sind die Wegzeiten und desto schneller Laufen Prozesse ab. Anhand Stephen R. Coveys Modell des Interessen- und Einflussbereiches wird erläutert, was Konzentration für die eigene Gedankenwelt bedeutet.

Abgesehen von einer Aktualisierung meines letzten Artikels hat sich auf meinem Blog seit geraumer Zeit wenig geregt. Das ist nicht damit begründet, dass ich meinen Blog aufgegeben habe. Viel mehres lag in einer bewussten Entscheidung, meinem Blog zugunsten meines Buchprojektes keine Zeit zu schenken. Unser Buchprojekt Zellkultur ist endlich auf der Zielgeraden und so habe ich wieder Zeit, um eine kleine Artikelserie über das Grundprinzip der Konzentration zu verfassen. In diesem Artikel werde ich erläutern, weshalb Konzentration die Geschwindigkeit von Abläufen erhöht und wie sie dieses Prinzip nutzen können, um ihre oder die Zeit ihrer Organisation besser zu nutzen. Außerdem werden sie überrascht sein, dass ich nicht über Konzentration im Sinne von „angestrengt nachdenken“ spreche, sondern über eine „Menge von Dingen in einem Raum“. Dinge wie Teilchen oder Gedanken und ein Raum wie das Zellinnere, oder eben unserem Kopf!

Konzentration – was ist das?

Das Bild für diesen Artikel habe ich ganz bewusst gewählt. Denn der schillernde Diamant im Zentrum ist ein Sinnbild für hohe Dichte. Diamanten entstehen unter unglaublichem Druck tief im Inneren unserer Erde. Diamant hat eine Dichte von 3.51 Gramm pro Kubikzentimeter. Ein Kubikzentimeter ist ein Würfel mit einer Kantenlänge von jeweils 1 cm, ganz ähnlich zu einem üblichen Spielwürfel, so wie man ihn aus Brettspielen kennt. Die Dichte ist also ein Maß dafür, wie viele Dinge sich innerhalb eines bestimmten Raumes (z. B. einem Würfel) befinden. Weil sich viele Moleküle innerhalb des Würfels befinden, ist der Diamant schwerer als z. B. Graphit, der dem Diamanten chemisch sehr ähnlich ist. Grob vereinfacht: Je mehr Dinge sich darin befinden, desto dichter ist ein Gegenstand. Die Dichte existiert natürlich nicht nur für feste Körper wie Diamanten, sondern auch Gasen oder Flüssigkeiten. Die Dichte für sie sagt uns, wie viele Teilchen sich innerhalb eines Raumes befinden. Für Lebewesen ist die Dichte mehr als nur eine physikalische Größe. Sie ist eine Notwendigkeit, wie die Katalyse, um Leben zu ermöglichen.

Von Dichte, Wegen und Geschwindigkeit

Dieses bunte Bild ist aus unserem Roman Zellkultur entliehen. Es zeigt eindrucksvoll, wie es denn in unseren Zellen aussieht. Vorausgesetzt, man nutzt eine Vergrößerung von einer Million (angelehnt an Darstellung aus dem Buch „Wie Zellen funktionieren“ von David Goodsell [2]). In dieser mikroskopisch kleinen Welt funktioniert vieles völlig anders als in unserer Welt. Die bunten Formen sind allesamt Moleküle verschiedenster Form und Größe. Kleine wendige Zuckermoleküle, große träge Proteine, aber auch viele Wassermoleküle dazwischen. Wasser ist hier also keine Flüssigkeit mehr, sondern eine Menge an Teilchen. Unterm Strich: ein ziemliches Gedränge. Die dicht aneinander gedrängten Teilchen schubsen sich einander, stoßen an, prallen ab und irren ziellos umher.

Wir wissen heute, dass Leben salopp gesagt nichts anderes ist als chemische Reaktionen. Und zwar viele davon, die vor allem aneinander anschließen müssen, ohne abzureißen. Das ist es, was wir gemeinhin Stoffwechsel nennen. Damit dies geschieht, ist es zwingend notwendig, dass alle Teilchen möglichst dicht aneinander liegen. Natürlich nicht so dicht, dass sich keiner mehr rühren kann, aber so dicht, dass möglichst wenig Platz oder besser gesagt Entfernung zwischen den Teilchen vorhanden ist. Denn je näher sie sich sind, desto geringer ist die durchschnittliche Zeit, bis zwei passende Teilchen aneinander geraten. Denn unabhängig von ihrer individuellen Geschwindigkeit ist die Wegstrecke maßgeblich dafür verantwortlich, wie oft Teilchen miteinander kollidieren.

Am Ende geht es nur um eines: Zeit

Die hohe Dichte in lebenden Zellen sorgt also dafür, dass die Wege kurz sind und damit viel häufiger mögliche Reaktionspartner zusammentreffen. Aber nicht nur das, wie man im Bild schön sehen kann, ordnen sich Zellen auch so, dass nur bestimmte Teilchen nahe beieinander sind. Stellen sie sich eine Kiste voller loser, ungeordneter Schrauben vor: große Schrauben, kleine Schrauben, lange Schrauben, kurze Schrauben usw. Um in dieser losen Kiste die richtige Schraube zu finden, benötigen sie deutlich mehr Zeit, als wären die Schrauben in separaten Kisten geordnet. Je seltener die gesuchte Schraube ist, desto länger dauert es, bis ihr Werkzeug mit der Schraube „reagieren kann“. Genau dieses Prinzip nutzen Zellen, um die Dichte an passenden Teilchen zu erhöhen. Denn am Ende gilt: Hohe Konzentration bedingt kurze Wege, die weniger Zeit kosten. Und am Ende geht es nur darum: Abläufe schnell und damit anschlussfähig zu machen. Ist die Dauer zwischen zwei Abläufen zu lange, reißt die Kette ab und das System kommt zum Erliegen [1].

Ohne Grenzen, keine Konzentration

Wir wissen jetzt, dass viele Dinge auf einem begrenzten Raum für eine hohe Dichte sorgen. Indem wir aber zusätzlich nur die Dinge in diesen Raum lassen, die wir benötigen, erreichen wir eine hohe Konzentration. Eine Konzentration an Nützlichem, weil alles andere außen vor gelassen wird. Einen Raum bekommt man aber nur, wenn man Grenzen setzt. Hätte eine Zelle keine Hülle, so würden die aufwendig geordneten Teilchen überall hin wegschwimmen. Das Resultat wären längere Wege und Zeitverlust. Das heißt für uns, wenn wir Dinge schnell tun möchten, benötigen wir ordnende Strukturen und Grenzen, die uns ermöglichen, nützliche Dinge zu sammeln.

Unser Interessen und Einflussbereich

Verlassen wir nun die Zellen und wenden uns einem bekannten Konzept von Stephen R. Covey zu, das er Interessen- und Einflussbereich nennt [3]. Das Konzept eignet sich recht gut, um die Problematik fehlender Konzentration zu ergründen. Jedoch ist es in seiner Urform unvollständig, da der wichtige Aspekt der Konzentration keine Beachtung findet. Die Idee der Kreise ist es, Themen, die uns beschäftigen oder mit denen wir uns beschäftigen, einzuordnen. Der äußere Rand stellt die Wahrnehmungsgrenze dar. Was sich hinter dieser Grenze befindet, bekommen wir nicht mit uns kann uns demnach weder interessieren, noch können wir darauf Einfluss nehmen. Alles, was sich innerhalb dieser Grenze befindet, hat ein Abbild in unserem Kopf. Je mehr das ist, desto mehr unterschiedliche Dinge und Gedanken liegen in unserer „Schraubenkiste“.

Im Interessenbereich befindet sich alles, was irgendwie unser Interesse weckt. Das können Nachrichten sein, äußere Umstände und andere Themen, auf die wir aber keinen direkten Einfluss haben. Alle Aufmerksamkeit und Zeit, die wir hier aufwenden, ist dahingehend verloren, weil wir nichts ändern können.

Im Einflussbereich befinden sich Dinge, die wir nicht direkt kontrollieren können, aber die wir beeinflussen können. Üblicherweise siedeln sich hier Themen an, die sich mit anderen Personen beschäftigen. Alle Dinge am Arbeitsplatz, in der Familie, im Verein oder in anderen sozialen Gruppen sind hier verortet.

Und dann wäre da noch der Kontrollbereich. Er ist eine Teilmenge aus unserem Einflussbereich mit dem Unterschied, dass wir ihn absolut in der Hand haben. Für gewöhnlich sind das Dinge, über die wir die volle Entscheidungsgewalt haben oder die uns selbst betreffen.

Den Einflussbereich vergrößern

Stephen R. Covey argumentiert, dass proaktive Menschen ihre Energie auf ihren Einflussbereich lenken (in seinem Modell gibt es keinen Kontrollbereich), während reaktive Menschen sich auf ihren Interessenbereich fokussieren. Sie nutzen ihr wertvolle Zeit, um über Dinge nachzudenken, die sie nicht ändern können: Die Umstände, die Politik, die Nachrichten, die Aktienkurse. Sicherlich kann man den ganzen Tag über die Folgen der Corona Pandemie lamentieren und jede Eilmitteilung verfolgen. Falls daraus keine Aktivität erwächst, die sich innerhalb des eigenen Einfluss- oder Kontrollbereiches befindet, stellt sich jedoch die Frage: Was bringt mir das?

Stephen R. Covey empfiehlt dann, den eigenen Einflussbereich (inkl. Kontrollbereich) zu vergrößern. Z. B. indem man anstelle sich über etwas aufzuregen, bestimmt, was man konkret für sich für Konsequenzen zieht. Anstelle sich über das Verhalten anderer auszulassen, den eigenen Umgang mit diesem verhalten ändert. Aus Sicht der Konzentration gewinnt man hierdurch jedoch nur neue Handlungsoptionen. Denn es kommen neue Dinge hinzu. Und das bedeutet ja nicht, dass die Bisherigen verschwinden. Die Konzentration verringert sich im ersten Schritt also weil man noch mehr Möglichkeiten im Kopf hat, auf die man die eigene Aufmerksamkeit aufteilen kann. Den eigenen Einflussbereich erweitern ist in etwa damit vergleichbar: Es ist gut, vielseitig interessiert zu sein. Deshalb lege ich mir jetzt einige neue Hobbys und Lernbereiche zu. Die Folge ist, ich habe mehr Themen in meinem Kopf. Die Zeit, um diese neuen Hobbys zu bedienen, muss jedoch von anderen Themen abgezogen werden. Das führt zu weniger Zeit pro Thema und potenziell häufigeren Kontextwechseln.

Aktionsbereich nutzen um Konzentration zu erhöhen

Ich gehe davon aus, dass der Interessen- und Einflussbereich keine stabile Größe ist. Er ist ein Sammelsurium an Dingen, die sich über die Zeit ändern, zum Teil auch unwillentlich. Vor Corona hatte niemand einen Posten der Lockdown oder Impfungen hieß in seinem Interessenbereich. Heute hat es nahezu jeder Bundesbürger. Selbst ich verbringe mehr Zeit als früher damit, Nachrichten zu konsumieren, die mich in eine schlechte Stimmung versetzen. Auf Kosten anderer deutlich vorteilhafterer Themen. Die Auswahl an Themen, mit der wir uns innerhalb einer Zeiteinheit z. B. eines Tages beschäftigen, nenne ich Aktionsbereich. Diesen können wir mit entsprechender Vorbereitung weitgehend selbst festlegen oder, ausreichende Selbstwahrnehmung vorausgesetzt, auch situativ steuern.

Wie wir gelernt haben, geht es gar nicht um die Menge der Dinge alleine, sondern um ihre Distanz zueinander. Je mehr wir unsere Zeit, womöglich ohne dass es uns bewusst sind aufteilen, desto geringer wird die Wirksamkeit unseres Zeiteinsatzes. Da unser Aktionsbereich eine geringe Konzentration hat, entfällt auf jedes Thema weniger Zeit und Aufmerksamkeit. Zudem haben wir mentale Distanzen zurückzulegen, jedes Mal, wenn wir uns etwas anderem zuwenden. Im Berufsalltag bezeichnen wir dieses Phänomen gerne als „Multitasking“. Wobei Multitasking keine Gleichzeitigkeit beschreibt, sondern vielmehr das mentale Reisen zwischen den Themen. Denn der Kontextwechsel ist es, der uns Zeit kostet. Je weniger Themen wir in unseren Aktionsbereich zulassen, desto höher ist dessen Konzentration. Wir haben weniger verschiedene Schrauben in unserer Kiste und finden diese auch schneller, selbst wenn wir vorher den Kontext gewechselt haben.

Dieser Zusammenhang ist in einer beispielhaften Darstellung eines Interessen- und Einflussbereiches veranschaulicht. Der rote Aktionsbereich hat nicht nur eine geringere Konzentration, sondern auch noch einen Fokus auf den ungünstigen Interessenbereich. Der grüne Aktionsbereich hat eine deutlich höhere Konzentration, indem er sich auf wenige (hoffentlich sinnvolle) Aspekte reduziert und damit Optionen ausschließt. Sind Themen im Aktionsbereich fertig oder ausreichend betreut kann Platz für Neues geschaffen werden. Optimal ist eine begrenzte Auswahl von Themen die sich überwiegend im eigenen Kontrollbereich befinden.

Fazit

Konzentration und Geschwindigkeit sind fundamentale Zusammenhänge, die sich in unterschiedlichen Kontext übertragen und nutzen lassen. Selbst gemeinhin bekannte Prinzipien wie Multitasking oder Achtsamkeit lassen sich aus physikalischen Zusammenhängen herleiten. Indem wir uns über unsere eigene Wahrnehmungsgrenze klar werden, lernen wir, welche Themen uns bewegen und beeinflussen. Aber nicht jedes Thema, das unsere Aufmerksamkeit einnimmt, ist jedoch hilfreich für uns. Sie erhöhen alle die Dichte in unserem Kopf. Bis alles so voll ist, dass sich auch die guten Gedanken nicht mehr bewegen können. Denn störende Themen sind nicht nur einfach da – nein, sie reduzieren die Konzentration und machen es unwahrscheinlicher, dass wir Zeit für Vorteilhaftes aufwenden. Denn jeder Kontextwechsel zwischen fremden Gedankengängen kostet uns wiederum Zeit. Den eigenen Aktionsbereich innerhalb unserer Wahrnehmungsgrenze zu verstehen und zu gestalten, kann uns Aufschluss darüber geben, wohin unsere Zeit wandert. Und darum geht es ja: die Zeit. Denn sie ist die begrenzende Ressource jedes Lebewesens.

Im nächsten Artikel wird es darum gehen, wie man das Prinzip der Konzentration durch clevere Ordnung im Alltag und Beruf dazu einsetzt, Prozesse und Abläufe zu beschleunigen. Entweder für ich selbst oder auch für die eigene Organisation.

Hinweis: Die Konzentration wird auch in unserem Business-Roman Zellkultur thematisiert.

Danke fürs Lesen. Leben Sie lang und erfolgreich!

Literaturhinweise und Buchempfehlungen

[1] Dachs, Clemens (2021): Viable Project Business. A Bionic Management System for Large Enterprises. Cham: Springer International Publishing AG (Contributions to Management Science).
[2] Goodsell, David S.; Renneberg, Reinhard; Hummel, Isolde (2010): Wie Zellen funktionieren. Wirtschaft und Produktion in der molekularen Welt. 2. Aufl. Heidelberg: Spektrum Akad. Verl. (Spektrum-Sachbuch).
[3] Covey, Stephen R. (2016): Die 7 Wege zur Effektivität. Prinzipien für persönlichen und beruflichen Erfolg. Unter Mitarbeit von Angela Roethe, Ingrid Pross-Gill und Nikolas Bertheau. 36. Auflage. Offenbach: GABAL

Wirksames Verändern von Organisationen

Zusammenfassung für eilige Leser
Veränderungen wirksam umzusetzen ist eine der am häufigsten genannten Herausforderungen von Organisationen. Die schlechte Nachricht ist: Ja es ist schwierig. Ihr Gelingen ist nicht gesichert und zudem dauert es meist länger als sich eine Organisation erhofft – oder sich eingestehen will. Jedoch können wir aus der Natur lernen, worauf es ankommt adaptive Organisationen zu gestalten, die mit Veränderung effizienter umgehen, als wenn diese Abläufe nicht in der Organisation verankert sind.

Der Ausbruch von Covid-19 hat unser aller Leben verändert, wie selten ein Ereignis in den letzten Jahren zuvor. Es hat nicht nur unser Leben verändert, sondern das nahezu aller Menschen auf diesem blauen Planeten. Nicht nur das Maß der Veränderungen ist beeindruckend, sondern auch die Frage, ob diese Veränderungen überhaupt wieder rückgängig gemacht werden können. Und wenn ja, wie lange wird das dauern und wird es permanente Spuren auf den verschiedenen Ebenen sozialer Organisationen hinterlassen: Uns selbst, unserer Familie und engen Bekannten oder ganzer Gesellschaften? Wenn das nicht wirksame Veränderung war, wie sie sich jeder CEO, Firmeninhaber und Organisationsberater wünscht, was dann? Eike Wagner mir vor einiger Zeit die Frage gestellt, „Wie, geht wirksames Verändern wirklich?“ Angesichts der galoppierenden und beeindruckend wirksamen Veränderung um uns herum waren die Osterfeiertage daher ein guter Zeitpunkt, diese Fragestellung zu reflektieren.

Was ist wirksame Veränderung?

In meinem letzten Artikel habe ich über die begrenzten Möglichkeiten des Menschen geschrieben, mit Komplexität umzugehen oder gar „die Wirklichkeit“ wahrzunehmen. Daher beginne ich diesen Artikel mit einigen Definitionen, die aus meiner ganz persönlichen Kombination aus Wahrnehmung und Verarbeitung konstruiert sind und insbesondere die Schlüsse begründen, die ich aus meinen Überlegungen ziehe.

Veränderung

In meiner Welt sind Organisationen besondere Formen lebender Organismen. Sie funktionieren physiologisch wie andere Lebewesen jedoch mit einer besonderen Anatomie. Anstelle von Molekülen, Proteinen, Zellen und Organen treten Rollen, Arbeitsumgebungen, Teams und Abteilungen. Ein Organismus funktioniert dann anders, wenn er ein anderes Verhalten zeigt und andere Eigenschaften besitzt. Diese Veränderung geschieht stetig in kleinsten Sprüngen. Jeder von uns ist in diesem Moment bereits anders als noch vor einer Minute. Da wir kontinuierlich unsere Umwelt wahrnehmen und uns daraufhin adaptieren, ist Veränderung in einem lebenden System immanent. Jede unserer Handlungen koppelt auf uns zurück und beeinflusst, wie wir in Zukunft funktionieren. Jeder Atemzug, den wir tun, beeinflusst die Zusammensetzung der Atmosphäre in Bezug auf seinen Gehalt an Sauerstoff und Kohlendioxid. Wir stehen im dauerhaften Austausch mit unserer Umwelt und verändern uns wechselseitig – ausnahmslos!

Veränderung geht aus Verhalten hervor

Doch diese natürliche Veränderung meinen wir häufig gerade nicht, wenn wir über Unternehmensentwicklung sprechen. Im Organisationskontext scheint ja, dass diese Mechanismen nur unzureichend zu langsam oder in die falsche Richtung verlaufen, um mit der Veränderung der Umwelt mitzuhalten. Weshalb sonst beauftragen Unternehmen externe Berater, um das Thema Veränderung endlich in den Griff zu bekommen? Wenn ich über Veränderung spreche, meine ich jedoch genau diese Fähigkeit, sich kontinuierlich zu adaptieren. Es geht darum, dass Organisationen sich morgen dauerhaft anders verhalten als heute als Ergebnis eines Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesses.

Ich bin überzeugt: Nur aus dauerhaft verändertem Verhalten folgen dauerhaft veränderte Ergebnisse. Deshalb bedeutet Veränderung für mich, Organisationen mit Wirkungskreisläufen auszustatten, die genau dieses Verhalten ermöglichen.

Veränderte Ergebnisse entstehen durch verändertes Verhalten

Veränderung bedeutet also dauerhaft anderes Verhalten auszudrücken, um dauerhaft andere Ergebnisse zu erzielen. Da Menschen zumindest noch einen nicht untergeordneten Teil des Organisationsverhaltens prägen, heißt das: Veränderung ist es, wenn Menschen morgen anders arbeiten als heute. Und weil sie anders arbeiten, erzielen sie in Folge andere Ergebnisse. Diese Ergebnisse sind es ja, weshalb man sich zur Veränderung entschieden hat: weil man schneller, effizienter, innovativer oder in welcher Art und Weise anders sein möchte.
Verabschieden wir uns von dem fundamentalen Irrtum, dass Veränderung in großen Hau-Ruck und Einmalprojekten gemeistert werden. Denn Veränderung in lebenden Systemen ist etwas Kontinuierliches und wird nicht durch lang geplante Innovationen erzeugt.

Blicken wir auf die aktuellen Ereignisse rund um die Corona-Pandemie, wird dieses Prinzip offensichtlich: Nur wenn jeder sein Verhalten ändert und sich isoliert soziale Kontakte auf ein Minimum senkt und zudem diverse Hygienehinweise ernster nimmt, erhofft man sich, dass die Ansteckungsrate sinkt. Unser verändertes Verhalten erzeugt systemisch gesehen also ein verändertes Ergebnis.

Veränderung bedeutet für mich also verändertes Verhalten der beteiligten Menschen (und Systeme, falls diese ebenfalls beobachtbares Verhalten zeigen bspw. Algorithmen, neuronale Netze etc.). Die Frage ist nur, was führt dazu, dass wir unser Verhalten wirksam ändern?

Wirksamkeit

Spannend an Eikes Fragen war für mich das Wort wirksam. Denn Wirksamkeit ist für mich erst einmal etwas Neutrales. Wirksamkeit ist weder positiv noch negativ. Ich kann eine Organisation durch rigides und rücksichtloses Führungsverhalten verändern, und zwar wirksam. Ganz aktuell sehen wir auch: Man kann drakonische Strafen einführen, um Leute vor dem Verlassen ihrer Wohnung abzuhalten – und zwar wirksam.
Ich gehe aber davon aus, dass genau diese Wirksamkeit nicht gemeint ist, gerade wenn wir über eine positiv konnotierte Anpassungsfähigkeit von Organisationen sprechen. Doch wer oder was legt den Maßstab für diese Wirksamkeit fest? Sind es die finanziellen Kennzahlen, die wichtigsten Stakeholder, der Vorstand oder gar die Aktionäre? Wann also ist eine Veränderung wirksam?

Wirksamkeit und der Organisationszweck

Ich orientiere Wirksamkeit an keiner dieser Instanzen, sondern setze eine Maßnahme in Bezug zum Organisationszweck. Wenn ich vom Organisationszweck spreche, dann adressiere ich nichts, was man neumodisch mit „Purpose“ oder „Why“ bezeichnet. Ich spreche davon, als Organisation nur weiter zu existieren. Und dazu benötige ich als Organisation Wachstum [1]. In unserem Universum ist es einfach naturgesetzlich notwendig, immer zu wachsen, um den Erhalt eigener Strukturen zu gewährleisten. Nichts, was in unserem Universum existiert, ist dauerhaft, insofern es nicht kontinuierlich erneuert und erzeugt wird. Daher ist für mich der Primärzweck von Organisation erst einmal sich selbst zu erhalten. Organisationen bestehen einfach nur, um sich selbst zu erzeugen, wie es autopoietische Systeme alle tun. „The purpose of a system is what it does“ sagte treffend bereits der Kybernetiker Stafford Beer [2], und das ganz ohne Begründung, sprich ohne „Why“.

Wirksamkeit ist für mich daher eine Einordnung in Bezug auf diesen Primärzweck. Ist eine Veränderung zweckkonform, führte diese also zu einer Unterstützung des Wachstums des Systems (z. B. Erhöhung der Effizienz, Begrenzung von Verlusten, schnellerer Zugang zu Ressourcen, Reduktion von Durchlaufzeiten, optimaler Einsatz von Mitteln) ist er wirksam. Insbesondere die Dauerhaftigkeit sind hier maßgebliche Eigenschaften, die für mich Wirksamkeit bedingen. Verwechseln dürfen wir das aber nicht mit der häufig gewünschten „Selbsthaltung“. Denn dieser Begriff lässt vermuten, dass es Dinge gibt, die ohne Aufwand (also energieneutral) einfach funktionieren. So etwas gibt es in unserem Universum nicht! Wenn Eigenschaften und Verhalten selbsthaltend sind, bedeutet dies nur, dass sie dauerhaft von der Organisation unter Aufwand von Energie und Ressourcen erzeugt werden, ohne dass dafür eine explizite Entscheidung notwendig ist.

Das Wachstum, die einzige Messlatte ist, mag unversöhnlich und kalt klingen. Doch dürfen wir nie vergessen, dass ein lebender Organismus in erster Linie daran interessiert ist, sich selbst am Leben zu halten. Glücklicherweise ergeben sich auch daraus eine Reihe von positiven Implikationen für die beteiligten Menschen in einer Organisation, wie wir noch im Laufe des Artikels erfahren werden.

Wirksamkeit ist für mich eine Veränderung also dann, wenn sie eine dauerhafte Auswirkung auf den primären Organisationszweck (Wachstum) hat – im Guten wie im Schlechten.

Das Verhalten lebender Systeme

Leben ist immer und immer wieder das gleich zu tun

Physikalisch gesehen ist Leben die Verringerung von Entropie (ein Maß für die Unordnung), sprich das Schaffen und Erhalten von Ordnung und Struktur. Denn nur aus Ordnung gehen anschlussfähige Abläufe hervor, die einen Stoffwechsel bedingen können. Die Auflösung von Ordnung, sprich Chaos bedeutet, dass sich wiederholende anschlussfähige Abläufe nicht ausprägen. Und genau dieses Aufhören von Abläufen ist biologisch gesprochen der Tod eines lebenden Systems.

Gerade in der durch COVID-19 erzeugten Wirtschaftskrise, sehen wir, was geschieht, wenn essenzielle Kreisläufe in lebenden Systemen einfach unterbrochen werden: Geschäfte schließen, Kunden bleiben aus, Austausch findet nicht mehr statt und notwendige Ressourcenströme (Geld) kommen zum Erliegen. Es ist ein wenig wie untergetaucht zu werden. Man muss ungewollt die Luft anhalten. Das geht eine Zeit lang gut, aber irgendwann sind die Ressourcen (Sauerstoff) aufgebraucht und vitale Prozesse verlangsamen sich. Findet sich keine Alternative, kommt irgendwann das gesamte System oder Teile in ihm zum Stillstand.

Lebensfähigkeit entsteht aus der Beziehung von Dingen zueinander

Vermutlich haben sie sich schon gefragt, wie ich gerade zu diesem Beitragsbild gekommen bin. Der unglückliche Frosch im Bild besteht aus Molekülen, die für sich alleine keine Lebensfähigkeit besitzen. Moleküle bilden erst durch ihre Beziehung zueinander und die daraus folgenden Kreisläufe einen lebenden Organismus. Denn das rechte Bild zeigt ebenfalls den Frosch: Denn die Anzahl der Moleküle und ihre Zusammensetzung ist absolut unverändert. Der Unterschied liegt im Zusammenspiel zwischen ihnen, denn ihre Ordnung ist verloren gegangen. Die notwendigen Beziehungen zwischen den Systemelementen sind zerstört, die anschlussfähige Abläufe erzeugt haben, die wir Leben nennen.
Veränderung muss also geschehen, indem wir die Beziehungen zwischen Systemelementen beeinflussen.

Veränderung bezieht sich in meiner Wahrnehmung also weniger auf die Dinge selbst: Sprich die Menschen Werkzeuge, Gegenstände als ihre Beziehung zueinander. Sicherlich kann ich zum Zwecke der Veränderung ein neues Software-Werkzeug in einer Organisation einführen. Aber das Werkzeug selbst verändert nichts! Es selbst tut nichts und erzeugt auch keine Dynamik. Das Software-Tool sind die teuren Laufschuhe im Regal, die ohne regelmäßige Nutzung nichts erzeugen – im besten Fall erzeugen sie vielleicht ein schlechtes Gewissen. Erst wenn dieses neue Element Teil der bestehenden Prozesse wird, indem es beispielsweise meine Wirk- und Arbeitsumgebung verändert, wirkt es sich auf das Verhalten der Menschen aus. Und verändertes Verhalten erzeugt veränderte Ergebnisse. Leben entsteht also nicht durch das Vorhandensein von Dingen (Anatomie), sondern durch die Systemdynamik zwischen den Dingen (Physiologie).

Die Erzeugung von Organisationsverhalten

Organisationsverhalten ist die sich wiederholende Abfolge von anschlussfähigen Prozessen [3]. Das Ergebnis der Prozesse als auch ihre Effizienz wird durch die bestehende Arbeitsumgebung beeinflusst oder gar determiniert. Arbeitsumgebungen sind multi-faktorielle Wirkungsumgebungen, die einerseits aus expliziten Faktoren bestehen (Arbeitsgeräte, Prozessanweisungen, Werkzeuge, Prinzipien, Verhaltensrichtlinien), aber auch durch implizite Faktoren wie der „Unternehmenskultur“. Auch die handelnden Personen selbst bringen einen Teil der Arbeitsumgebung mit (Motivation, Know-how, Gesundheitszustand, Konzentration etc.). Gemeinsam ist all diesen Faktoren, dass die Organisation sie beim „prozessieren“ nicht verbraucht, sondern wiederholt verwendet kann. Fehlen sie jedoch, wird die Effizienz und das Ergebnis eines Prozesses deutlich schlechter ausfallen. Denn das beobachtbare Verhalten, welches das Ergebnis bedingt, wird durch diese Faktoren maßgeblich beeinflusst.

Optimalere Arbeitsbedingungen erzeugen optimalere Ergebnisse

Aus meiner Sicht ist der zentrale Dreh- und Angelpunkt von Veränderungsbestrebungen in Organisationen es immer und ausnahmslos ist, die eigenen Reaktions- bzw. Arbeitsumgebung für bestimmte zugrunde liegenden Prozesse zu verbessern. Denn aus einer verbesserten Arbeitsumgebung erzeugt die Organisation voraussichtlich ein vorteilhafteres Verhalten. Und verändertes Verhalten erzeugt veränderte, hoffentlich verbesserte Ergebnisse. Mein Artikel über die Katalyse beschreibt, weshalb dieses Wirkungsprinzip fundamental wichtig ist. Reflektieren wir dieses Bestreben nach optimalen Ausgangsbedingungen für jeden erdenklichen Unternehmensprozess, gibt es Faktoren, die nicht prozessspezifisch, sondern generell wirken, wie z. B. die Unternehmenskultur. Wenn wir also an „soften“ Faktoren arbeiten, um unsere Lebensfähigkeit als Organisation zu erhöhen – also aus ganz egoistischen Gründen – ist das eine Win-Win-Situation für System (Organisation) und seine Mitarbeiter.

Die Systemumgebung beeinflusst das Verhalten der Menschen

Indem wir die Wirkungsumgebung innerhalb der Organisation für diverse Prozesse bewusst verändern, vermuten wir eine bestimmte Auswirkung auf das Verhalten der beteiligten Akteure. Wir verändern also weniger das Verhalten der Menschen selbst als Parameter des Systems, die dazu führen, welches Verhalten sich einstellt.

Der Grund, weshalb sie gerade zu Hause sitzen, anstelle ihrer Freude zu einem Grillfest einzuladen, ist nicht, weil ihre Regierung ihr Verhalten geändert hat. Sie haben Ihr Verhalten geändert, da die Faktoren ihrer Umwelt zu einer veränderten Bewertung ihres Verhaltens in Ihnen geführt haben. Physikalisch hindert sie nichts daran, das geplante Grillfest im Freundeskreis zu organisieren. Sie können sich nach wie vor dafür entscheiden. Der Unterschied ist, dass ihr gewünschtes Ergebnis (saftige Steaks, kühles Bier, eine schöne, gesellige Zeit) weniger wahrscheinlich und zudem einige negative Nebeneffekte deutlich wahrscheinlicher geworden sind (Absagen, Ärger mit den Nachbarn, Konflikt mit Gesetz).

Keine „best practices“,sondern „fit practices“

Meine zentrale Annahme ist [1]: Eine „perfekte“ Arbeitsumgebung katalysiert den zugehörigen Prozess mit maximaler Geschwindigkeit und Effizienz ablaufen. Das Ganze hat jedoch einen Haken: Diese „Perfektion“ kann jedoch immer nur ein temporärer und flüchtiger Zustand sein. Das liegt in der eingangs beschriebenen Veränderung von lebenden Systemen: nicht nur wir, auch Organisationen, Gesellschaften, ja das ganze System Menschheit verändert sich kontinuierlich. Von daher kann eine heutige „Best Practice“ morgen schon nicht mehr die beste Art und Weise, sondern nur noch eine gute Herangehensweise sein.

Dieses sich ständig veränderte Optimum orientiert sich wiederum am Organisationszweck – dem Erzeugen von Wachstum. Ist heute eine Art und Weise Dinge zu tun (Verhalten) hinreichend passend, um das Wachstum der Organisation innerhalb ihrer Umwelt zu sichern, ist sie „fit“. Sie erfüllt ihren Zweck zumindest hinreichend gut.Ist sie das nicht mehr, dann liefert sie keinen ausreichenden Beitrag zur Überlebensfähigkeit mehr und muss adaptiert werden. Denn auch bei Organisationen geht es nur darum, für jede aufgewandte Ressource mehr Ressourcen aus der Umwelt zu bekommen. Für jeden ausgegebenen „Fitness-Punkt“ mehr „Fitness-Punkte“ zurückzubekommen. Denn dieses Anhäufen von Ressourcen und die Strukturierung der Ressourcen ist es, was Wachstum bedeutet.

Wir werden also niemals wissen, ob es eine „Best Practice“, sprich eine optimale Option unter allen anderen Möglichkeiten überhaupt gibt. Wir können nur feststellen, ob etwas ausreichend passend ist, um einen Beitrag zur Lebensfähigkeit zu liefern.

Verhalten wirksam zu ändern beginnt in der Organisations-DNS

Um dauerhaft ausreichend „fit“ zu sein, müssen lebende Organisationen dauerhaft in der Lage sein, optimale Wirkungsbedingungen aus ihrer DNS (der genetische Code) zu erstellen. Diese DNS umfasst explizites niedergeschriebenes Wissen über Prozesse und Abläufe, aber auch implizite Muster wie Kultur und Werte. Ich sehe diese „DNS der Organisation“ als relativ stabiles Grundgerüst an, mit dem wir in der Veränderung arbeiten müssen.

Der Nutzen der DNS ist es evolutionär gesehen gerade die Stabilität gegenüber externen Einflüssen und spontanen Mutationen. Diese Stabilität erlaubt es erst mit hoher Zuverlässigkeit katalysierende Arbeitsumgebungen zu schaffen, die dann effizient in der Lage sind, die gewünschten Ergebnisse zu produzieren. Die Beharrungskräfte von Unternehmen ihren bekannten Mustern zu folgen, ist daher ein Ärgernis für den Veränderer, doch zugleich auch ein Zeichen für die Zuverlässigkeit, mit der Organisationen sich selbst erneuern.

In der belebten Natur werden aus diesem stabilen Gen-Code regelmäßig temporäre, weniger stabile, aber lesbare Kopien (RNS) erzeugt. Aus diesen Kopien werden dann Prozess-Beschleuniger (Katalysatoren) geschaffen. Diese Beschleuniger sind unsere Wirkungs- und Arbeitsumgebungen. Diese temporären Kopien sind für mich das Wissen und die Kompetenzen der Mitarbeiter, die Teile dieses genetischen Organisationscodes enthalten. Enthält der genetische Code des Unternehmens eine Beschreibung, wie etwas zu tun ist und wird ein Mitarbeiter darin geschult, besitzt er eine „temporäre Kopie“ dieses Prozesses in seinem Gedächtnis. Führt er den Prozess dann aus, wird er auf diese temporäre Kopie zurückgreifen und nicht auf das Original.Weshalb diese bionische Analogie für Veränderung sehr relevant ist, zeige ich an zwei typischen Beispielen aus dem Organisationsalltag:

Beispiel 1 – Das Standarddokument

Ihr Organisation hat einen bestehenden Prozess, der nur dann reibungslos funktioniert, wenn für einen Prozess eine Anzahl an Informationen übergeben wird. Dazu wird ein Dokument verwendet, dass die benötigten Informationen abfragen. Da es dokumentiertes Wissen enthält, würde ich sagen, es ist Teil der DNS. Idealerweise zieht der Nutzer jedes Mal den aktuellen Standard und erzeugt eine temporäre Kopie, die damit Teil seiner Arbeitsumgebung wird. Würde er den Prozess ohne diesen Faktor anstoßen, wird die Arbeitsumgebung für diesen Ablauf deutlich schlechter werden, da bspw. Informationen fehlen und die Weiterverwendung komplizierter wird. Möchte die Organisation dieses Dokument jetzt ändern, kann sie das problemlos an der DNS tun, sie wissen ja wo es dokumentiert ist. Leider haben mittlerweile diverse Nutzer eigene „fest Kopien“, die wieder und wieder verwendet werden, anstelle den Standard zu bemühen. Diese Kopien werden ihrer Änderung nicht folgen, wodurch sich auch keine veränderte Arbeitsumgebung und kein verändertes Verhalten ergibt.

Dauerhafte Veränderung setzt also voraus, dass die Unternehmens DNS geändert wird. Es ist aber ebenso zwingend nötig, dass diese regelmäßig ausgedrückt wird, ansonsten wirkt sie nicht. Im Umkehrschluss muss den Mitarbeitern aber bewusst werden, dass ihr Prozesswissen und persönliche Dateiablage nur temporäre Kopien sind, die notwendige Veränderung ebenso behindern können.

Beispiel 2 – Ungeschriebene Gesetze

Daniel kommt neu ins Unternehmen und kennt die Gepflogenheiten nicht. In seiner neuen Abteilung war es bisher normal, dass jeder seine Angebote einzeln vorbereitete und später vom Chef Michael absegnen lässt. Da niemand sich die Mühe macht, dem neuen Kollegen mitzuteilen, wie Dinge wirklich funktionieren und es auch nirgends nachzulesen ist, tut er die Dinge, wie er es kennt. Daniel konsultiert also diverse Kollegen und öffnet neue Kommunikationskanäle zu anderen Abteilungen, die bisher immer außen vorgelassen wurden. Er berücksichtigt deutlich mehr Stakeholder-Interessen jedoch auf Kosten der Angebotseffizienz – es dauert einfach länger. Da Daniel offiziell bevollmächtigt ist, erstellte Angebote zu signieren, tut er das, ohne dem ungeschriebenen Gesetz der Vorgesetztenentlastung zu entsprechen.

Daniel verändert damit die Arbeitsumgebung (es fließen andere Informationen, ein neues Prozesswissen) und den Ablauf unabhängig von der Unternehmens-DNS. Daniels verändertes verhalten erzeugt ein verändertes Ergebnis. Es entstehen mehr Kosten, doch ist sein Ergebnis für diverse Folgeprozesse vorteilhafter, sollte es zu einem Auftrag kommen. Diese Veränderung ist wirksam im Sinne des geänderten Verhaltens, aber sie ist nicht stabil. Verlässt der Daniel das Unternehmen, ist anzunehmen, dass die Unternehmens-DNS wieder das bisherige Verhalten erzeugt, egal ob diese Veränderungen nun positiv waren oder nicht.

Diese zufällige Mutation des Verhaltens wird daher nicht von Dauer sein. Denn es ist anzunehmen, dass die stabile Unternehmens-DNS diese langfristig wieder auf den ursprünglichen Zustand zurückführen wird.

Wie also verändern wir lebende Organisationen wirksam?

Zusammenfassend ergeben sich aus diesen Überlegungen einige Anhaltspunkte für die erfolgreiche (im Sinne von wirksamer) Veränderungsarbeit mit Organisationen:

  • Leben ist von Stabilität abhängig. Trotz der bunten, mannigfaltigen und schier unendlichen Vielfalt funktioniert alles Leben im Kern sehr zuverlässig und indem es dafür sorgt, dass Mutationen nur sehr begrenzt vorkommen. Bei aller Innovationsfreude und dem Drang nach Neuem sollte man nie vergessen: Ihre Kunden kaufen bei ihrem Unternehmen nicht, weil sie spontan etwas ganz anderes tun als bisher, sondern weil sie kontinuierlich wiederholt zuverlässig die gewünschten Ergebnisse produzieren. Diesen Umstand bezeichnet man gemeinhin auch als Qualität. Die Stabilität der Unternehmens-DNS ist daher weder gut noch schlecht, aber zumindest ein notwendiger Bestandteil, Leben zu ermöglichen. Positiv gesehen sind auch wirksam eingebrachte Veränderungen in Folge langzeitstabil.

  • Die Organisation-DNS besteht häufig aus impliziten und expliziten Bestandteilen. Es ist ein schmaler Grat zwischen Überregulation und Laisser-faire (manchmal auch mit Agilität verwechselt …) Im Umgang mit Regeln, Richtlinien und Prozessen. Jedoch sollte es das Ziel jeder Organisation sein, ihre DNS explizit und begreifbar zu machen. Zu einer Organisations-DNS gehören gewolltes, dokumentiertes und langzeitstabiles Wissen, Prinzipien, Leitfäden und im Alltagsgeschäft hilfreiche Vorgehensweisen. Also weitaus mehr als nur ein Proforma-Dokument, um die ISO 9001 zu erhalten. Es ist notwendig, klar zu machen, dass beabsichtigte Veränderungen nur dann dauerhaft wirksam werden, wenn die Organisations-DNS geändert wird. Standards sind wo nötig zu von allen Beteiligten setzen und halten. Erst wenn dies gelingt, macht es Sinn, die DNS in die gewünschte Richtung zu verändern, da dies ansonsten nicht möglich ist.

  • Veränderung in lebenden Systemen geschieht kontinuierlich. In Organisationen beobachten wir hingegen häufig eine sprunghafte Veränderung. Spontane ereignis-getriggerte Wahrnehmung und Situationsanalyse und ebenso wenige große einmalige Veränderungsbestrebungen. Diese Art „Veränderungsinkremente“ genauso zuverlässig zu erzeugen wie die hauseigenen Produkte, ist das Ziel einer lebenden Organisation. Hierfür schaffen wir Strukturen, die einerseits die nötige Wahrnehmung erzeugen und zudem über die gesamte Organisation hinweg dauerhaft und regelmäßig Veränderungen generieren. Das bedeutet jedoch auch Veränderungen erzeugen benötigt dauerhaft Ressourcen. Da Strukturen regelmäßig erneuter werden, müssen (bspw. durch Training, Dokumentation) ist dieses Vorhaben niemals abgeschlossen. Ein Tatbestand, der gerade Managern oft Kopfzerbrechen bereitet, aber zwingend logisch ist.

  • Das Verhalten der Organisation geht aus der Beziehung ihrer Elemente hervor. Häufig sind berichtete Probleme meiner Kunden streng genommen einfach logische Ergebnisse, – wenn auch Ungewünschte. Analysiert man diese problematischen Ergebnisse dann unter systemischen Aspekten und macht die Arbeitsumgebung transparent, wird offensichtlich, dass ein problematisches Verhalten einfach nur folgerichtig ist. Das Verhalten ist schlicht und einfach die Folge von ungünstigen Anreizsystemen, fehlendem Wissen für übergeordnete Zusammenhänge oder anderen nachteiligen Einflussfaktoren. Von daher beginnen wir Veränderungsbestrebungen am besten ganzheitlich, um überhaupt in der Lage zu sein, komplette Wertschöpfungsströme von einem bis zum anderen Ende verbessern zu können. Das größte Übel von Veränderungsbestrebungen ist die Begrenzung aufs lokale. Denn häufig führen übergeordnete Faktoren dazu, unerwünschtes Verhalten zu erzeugen und wenn man diese nicht verändern kann, drehen sich Change-Initiativen im Kreis.

Danke fürs Lesen, bleibt gesund!

Literaturhinweise und Buchempfehlungen

[1] Dachs, Clemens (2020): Viable Project Business
[2] Beer, Stafford (1995): Brain of the firm. 2. ed., reprinted. Chichester: John Wiley & Sons (The managerial cybernetics of organization).
[3] Simon, Fritz B. (2018): Einführung in die systemische Organisationstheorie. 6. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Carl-Auer compact)

Komplexität ist doch auch keine Lösung

Zusammenfassung für eilige Leser
Komplexität beherrscht die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts. Der Artikel beschäftigt sich mit dem Umgang von Komplexität und plädiert für eine pragmatische Einordnung und Handhabung dieses Phänomens. Ich komme zu dem Schluss, dass uns Menschen gar nichts anderes übrig bleibt als Komplexität hinzunehmen, und ihr alleine auf Grund dessen wie wir ticken mit Einfachheit zu begegnen.

Every situation, no matter how complex it initially looks, is exceedingly simple.

Eliyahu Goldratt

Jede noch so verfahrene, unüberschaubare und lähmende – also komplexe Situation ist also in Wirklichkeit einfach. Dieses Zitat vom Erfinder der Engpass-Theorie Eliyahu Goldratt ist wahrlich gewagt. Zumindest gewagt in Zeiten, in denen man im Berufsumfeld keinen Schritt tun kann, ohne über die Komplexität zu stolpern. Beliebt ist sie als Grund für jeglichen Fehler und Irrtum, oder aber auch um Sachverhalte zur Unkenntlichkeit zu relativieren. Denn wo Komplexität ist, ist nur eines sicher: Nichts ist sicher – und nachvollziehbar schon gar nicht. Harte Zeiten für Menschen die Logik, Ordnung und Struktur lieben. Doch kann er recht haben, mit seiner Aussage?

Jetzt springe ich ins kalte Wasser. Denn meine Antwort darauf ist: Ja! Zumindest ist es zwingend notwendig, dass wir Menschen aus komplexen Situationen einfache „machen“, um uns darin zurecht zu finden. Denn eines, da bin ich mir sicher ist, dass „Komplexität doch auch keine Lösung ist“.

Komplexität in a nutshell

Was ist sie denn überhaupt diese Komplexität? Vermutlich hat jeder von uns zumindest eine diffuse, womöglich aber auch eine ganz konkrete Auffassung davon was Komplexität denn ist. Aber keine Angst, das wird kein Ausrollen der mannigfaltigen Pamphlete, Philosophien und Abhandlungen zu diesem doch recht sperrigen Thema. Ein paar Wortäußerungen zur Einstimmung können aber sicher nichts schaden.  Wer das zur Genüge kennt, darf getrost hinüber zum nächsten Abschnitt scrollen.

Grundlegend ist ja erst einmal die Umwelt schuld. Sie ist zunehmend VUCA und ganz und gar nicht vorhersagbar. VUCA – sprich volatil (Volatility), unsicher (Uncertainty), komplex (Complexity) und mehrdeutig (Ambiguity). Zusammen eine recht verworrene Angelegenheit, die so manche unangenehme Folge mit sich bringt:

Viel zu viel Varietät

Unterm Strich ist also nichts wie es scheint und wenn es uns doch so scheint, haben wir vermutlich eine unzulässige gedankliche Abkürzung genommen.  Viele kluge Köpfe, die ich schätze, haben noch mehr zu diesem Thema verfasst. Einer davon ist Conny Dethloff. Für Conny ist es dann Komplexität, wenn wir die Situation nicht mehr beschreiben können und in Folge dessen für uns nicht handlungsleitend ist [1]. Und weil das so ist, sind die möglichen Lösungsoptionen so unzählig, dass es die Lösungsfindung auch nicht einfacher macht. Aus der Riege der Kybernetiker würde Ashbys Gesetz herüberschallen, das da sagt: „Je größer die Varietät eines Systems ist, desto mehr kann es die Varietät seiner Umwelt durch Steuerung vermindern [2]. Varietät ist eine Art Einheit für Zustände, die man einnehmen kann. Na wunderbar! Heißt das wir selbst sollen noch komplexer sein, also mehr Varietät besitzen, damit wir Komplexität beherrschen können? Das wird wohl nichts werden, auch wenn mein Oberstübchen vermutlich eine recht ordentliche Varietät besitzt.

Komplexität ist nicht zerlegbar

Schlimmer noch ist ja, dass die guten alten analytischen Denkwerkzeuge auch nicht mehr angebracht sind! Komplexe Systeme und damit verbundene Probleme lassen sich nicht zerlegen. Denn die Summe der Einzelteile ist nicht die Summe der Einzelteile. Hier kommt die Emergenz ins Spiel, die sagt, dass aus dem Zusammenwirken der Einzelteile neue Eigenschaften, Verhaltensweisen und Muster entstehen können, die sich nicht aus den Einzelteilen erklären lassen. Spannend Wasser ist auch H₂0, aber weder aus dem Wasserstoffatom (H) noch den zwei Sauerstoffatomen (O) lässt sich erahnen, dass am Ende ein Molekül ensteht das flüssig ist. Die dramatische Folge ist eine komplexe Situation ist eine Black Box. Will man wissen was passiert muss man ausprobieren. Neudeutsch: Experiments oder Trail and Error.

Blau und Rot

Doch woran orientiert man sich? Es gibt ja mittlerweile eine unüberschaubare Anzahl von Theorien und Einordnungen, die uns die Komplexität näherbringen will: Chaostheorie, Kybernetik, Netzwerktheorie, Stacey, Cynefin und so weiter und so fort. Herr Wohland oder Herr Pfläging verleihen dieser anstrengenden, neuen und komplexen Welt den Namen „rote Welt“. Die rote Welt ist nicht vorhersehbar, nicht beherrschbar und die neue Erfolgswährung in ihr ist nicht mehr Wissen, denn das ist zu limitiert, sondern Können. Auch Fehler machen wir in dieser Welt nicht mehr, sondern „Irrtümer“. Weil Fehler sind es ja nur wenn wir es besser hätten wissen können – tun wir aber nicht in der roten Welt. Die neue rote Welt ist dynamisch und lebendig, die bisherige, blaue Welt ist tot*. Ach, und diese „blaue Welt“ ist im Übrigen das Zeitalter des roboterhaften, mechanistischen Taylorismus, welche wir für diese neue, totale Orientierungslosigkeit hinter uns gelassen haben [3].

*Bemerkung: Als leidenschaftlicher Molekularbiologie-Laie kann ich da aber nur sagen: Das Phänomen Leben ist dort unten aber sowas von mechanistisch, strukturiert und durchgetaktet, da würde so mancher staunen. Ich vermute Mal Gott war Taylorist, oder zumindest aber sehr ordnungsliebend. Wer sich selbst davon überzeugen will: Buchempfehlung unter Nummer [4], die nicht umsonst „Die Maschinerie des Lebens“ heißt. Aber nun zurück zum Thema. Ansonsten habe ich dieses Thema in diesem Artikel auch schon Mal gestreift.

Da fragt man sich doch: Wie konnten wir nur die blaue Welt zurücklassen? Wie schön war doch die Zeit als alles noch „blau“ war! Meine Oma hatte Recht: Früher war also doch alles besser…

Komplexität ist ein alter Hut

„Er hat Jehowa gesagt!“ Zumindest fühlt es sich gerade so an: Denn Komplexität ist ein alter Hut -jawohl! 

Mittelalterliche Entdeckungsreisen

Wir schreiben das Jahr 1492. Sie schippern gerade mit ihrem Manufaktur-Kahn über den großen Teich. Stürme peitschen übers Deck und ihre Nussschale wird von meter-hohen Wellen umhergewirbelt. Die Mannschaft ist vom Skorbut bedrohlich ausgedünnt und sie wissen gar nicht so recht wie Ihnen geschieht. Vermutlich haben sie gesündigt und Gott bestraft ihr Unterfangen mit eiserner Hand. Auch die vergilbten Karten, schiefen Sextanten und unbekannten Meeresströmungen machen ihnen zu schaffen. Es ist wirklich nicht so einfach, so ganz ohne GPS. Aber eines wissen sie mit Gewissheit: Sie wollen nach Indien! Wo auch immer das ist. Ach so, ja: Ihr Name ist Christoph Columbus und ach wie froh sind sie gerade, dass ihre kleine Welt noch so schön vorhersehbar war. Es gab keine Volatilität, Unsicherheit und von Komplexität gar nicht zu sprechen. Und was glauben Sie, wie „mehrdeutig“ der erste Kontakt mit den indigenen Völkern Amerikas verlaufen ist? Ich behaupte Mal das war schon recht VUCA…

Von Hunden und Menschen

Oder nehmen wir Herr Watzlawicks bekanntes Beispiel aus „Menschliche Kommunikation“, um den Unterschied zwischen einem komplizierten und einem komplexen System zu verdeutlichen: Watzlawick zieht einen Ihnen unbekannten Hund heran, den Sie im Park über den Weg laufen. Stellen Sie sich also vor sie sehen im Park einen Hund. Nun überlegen Sie diesen zu treten. Genau, denn falls sie (und ich rate Ihnen das in keiner Weise an) einen Hund treten möchten, besteht die Spannung darin, dass sie nicht wissen was geschieht. Der Hund ist nämlich ein komplexes System. Er hat eine Vergangenheit (Pfadabhängkeit!) er ist ebenso kontextabhängig und deshalb lässt sich seine Reaktion auf ihren Tritt nicht vorhersagen [5]. Womöglich ist diese Erfahrung für den Hund völlig neu, oder er hatte bereits einige Begegnungen mit Absätzen. Sein Verhalten ist daher für sie nicht zu erahnen, da es eine Reaktion aus vielen Faktoren ist, die komplex zusammenwirken. Trail and Error ist also angesagt. Treten und sehen was passiert: Winseln, Wegrennen oder Wadenbiss – alles ist drin. Bei Menschen ist das übrigens ganz ähnlich, nur ohne Wadenbiss, zumindest meistens.

Heutzutage ist es aber wirklich, wirklich komplex

Und bevor ich es vergesse, der Begriff VUCA hat auch schon einen Bart. Der Begriff wurde von der U.S. Army gegen Ende der 1990er Jahre geprägt, um die weltpolitische Veränderung nach dem Ende des kalten Krieges zu beschreiben. Auch wenn der Begriff selbst erst nach den Attentaten um die Jahrtausendwende so richtig Karriere machte. Das heißt: Zumindest die letzten 30 Jahre ist die Welt aber auch wirklich unübersichtlich geworden.
Mit dem VUCA-Gefühl ausgestattet, dass die eigene Zeit, die überhaupt schnelllebigste und unübersichtlichste ist, die es jemals gegeben hat, sind wir in guter Gesellschaft. Denn es gibt Stimmen die behaupten, dass wir das schon immer geglaubt haben [6]. Vermutlich hat jede Generation vor uns ein ähnliches Ohnmachtsgefühl geplagt. Und vermutlich hatte jede Generation damit auch irgendwie recht. Fakt ist aber auch: Klar gekommen sind sie damit alle.

Komplexität die bereits in der Interaktion zwischen Mensch und Tier auftritt, ist etwas Natürliches. Es hat sie schon immer gegeben und wir sind seit unserer Geburt mit ihr konfrontiert. Ich halte diese in Mode gekommene Abgrenzung zu kompliziert und einfach für konstruiert. Als ob Henry Fords Welt nur kompliziert gewesen wäre! Wer glaubt allen Ernstes, dass eine Fließband-Montage in dieser Zeit zu schaffen eine einfach planbare, komplizierte Aufgabe war? Ich meine, der irrt. Die Welt war schon immer turbulent. Jede Zeit der Geschichte auf ihre Weise. Deshalb ist Komplexität an sich nichts „Neuartiges“. Machen wir also das Beste daraus.

Wir denken nicht komplex

Und nun kommen wir zum Problem. Wobei das Problem in gewisser Weise auch gleich die Lösung zu gleich ist, wie wir noch sehen werden.

Unsere Wahrnehmung und unser Denken hat sich über die letzten Jahrundertausende entwickelt. Und zwar zu einem Zweck: Um zu Überleben. Dabei hat sich unsere Wahrnehmung, als auch die Art und Weise wie wir den wahrnehmen, Vorgehen ausgedacht, um das einerseits wirksam, aber auch so ressourcensparend wie möglich hinzubekommen. Denn eines dürfen wir nicht vergessen: Alles was wir tun, dient dem Ziel uns am Leben zu halten. 

Um daher in einer komplexen und damit nicht endgültig begreifbaren Welt handlungsfähig zu bleiben, nutzen wir die Bordmittel, die uns zur Verfügung stehen. Uns bleibt ja auch gar nichts anderes übrig. Die Probleme in Bezug auf das Verstehen von Komplexität habe ich in der nachfolgenden Grafik umrissen:

In der obigen Darstellung ist links die Realität zu sehen. Ein komplexes, undurchdringbares Knäuel. Dieses Knäuel ist ein emergentes Etwas, dass sich stetig verändert, pulsiert und in seiner Gesamtheit so gewaltig ist, dass sie für uns unbegreiflich ist. Vorraussichtlich wird auch mit dem Fortschreiten der Wissenschaft das Bild darüber, was Realität nun wirklich ist kurz- bis mittelfristig nicht klarer werden. Dachten wir noch bis vor kurzem das Raum und Zeit wahrhaftige Dinge sind, beginnt die Quantenmechanik an diesen Begriffen unseres Realitätsverständnisses zu rütteln. Man kann daher zurecht annehmen, dass wir nicht wissen was diese Realität wirklich ist.

Unsere Wahrnehmung filtert Komplexität

Doch glücklicherweise sehen wir die objektive Realität – sofern sie überhaupt existiert nicht. Denn der Ausschnitt, den wir wahrnehmen ist nur ein Bruchteil dessen, was sich da draußen in der Realität abspielt. Nehmen wir einmal das Licht oder abstrakter gesagt: elektromagnetische Strahlung. Der für uns Menschen sichtbare Bereich des gesamten Spektrums ist minimal. Wir sehen zwar Farben wie rot, grün oder blau, aber keine Röntgenstrahlung, Mikrowellen oder UV-Strahlung. Im Bereich des hörbaren Frequenzbereichs ist es genau das gleiche. Das ist auch der Grund weshalb die Realität für Biene und Fledermaus ganz anders aussieht. Den Fakt ist, wir erzeugen ein Bild der Realität durch unsere Wahrnehmung. Diese ist limitiert durch unsere Sinnesorgane, aber auch durch unsere persönliche Deutung dessen was wir sehen. Denn auch von uns getroffene Zuschreibungen der wahrgenommenen Realität, wie schön, hässlich, duftend, aber auch Farben sind nichts anderes als persönliche Muster. Ist es da so abwegig, dass wir auch viele andere Dimensionen der Wirklichkeit nicht wahrnehmen, die wir besser kennen sollten?

Unser von der Evolution verzerrtes Bild der Realität

Das positive daran ist, dass unsere begrenzte Wahrnehmung einen Filtereffekt hat. Denn sie reduziert Komplexität, indem sie Stücke aus dieser Realität ausblendet und uns ein komprimiertes Stück Wirklichkeit zur Verfügung stellt. Die spannendste Theorie, die ich vor kurzem dazu gelesen habe, ist die Theory of Perception (ITP) von Donald Hoffmann. Die ITP besagt, dass unsere ganze Wahrnehmung unter evolutionären Prinzipien geprägt wurde, die nicht das Ziel haben „Wahrheit“ zu erkennen, sondern uns einen Überlebensvorteil zu verschaffen [7]. Jemand auf seinem Desktop ein Papierkorb-Symbol sieht, weiß auch, dass dies gar kein echter Papierkorb ist. Es sind Schaltkreise und elektrische Ladungen. Aber wie viel Nutzen hätte das für uns, wenn wir genau das sehen würden? Wie lange würde das Löschen einer Datei dauern, wenn wir diese Wirklichkeit in all ihrer Kompliziertheit manipulieren müssten. Deshalb ist unser Bild der Wirklichkeit womöglich nichts anderes als ein Benutzerinterface, um in unserer Umwelt agieren zu können. Es zeigt uns die Wirklichkeit in einer handhabbaren Form.

Unser Bild der Realität ist vereinfacht

Zusammenfassend können wir sagen, wie können die komplexe Welt nicht erfassen. Unsere Sinne sind auf Überleben trainiert. Dieses Überleben hat sich in der Entwicklungsgeschichte auf sehr direkte Ursache-Wirkungszusammenhänge bezogen. Schlange für Gefahr, Dunkle Farben und Nacht bedrohlich usw. Daher ist meine Überzeugung, durch unsere Wahrnehmung die komplexe Welt auf etwas kompliziertes reduziert wird. Denn diese Kompliziertheit ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass unser Verstand in ihr handlungsleitende Schlüsse zieht, die für das Überleben unabdingbar sind.

Unsere gedankliche Verarbeitung vereinfacht weiter

An diesem Punkt haben wir also ein vereinfachtes Abbild der Realität in unserem Bewusstsein. Die Frage, die sich nun stellt, ist was machen wir damit in der Annahme, dass wir immer noch vor der Aufgabe stehen uns in einer komplexen Welt zurecht zu finden.

Die Grenzen unserer Vorstellungskraft

Gehen wir einen Schritt weiter. Wenn wir die komplexe Realität auf Grund unserer limitierten Wahrnehmung nicht erkennen können, heißt das es gibt Bereiche, die sich völlig unserer Vorstellung entziehen. Stellen sie sich doch kurz im Geiste drei Bananen vor. Klappt? Gut. Und nun stellen sie sich bitte 1.000 Bananen vor. Hat nicht geklappt? Macht nichts. Der Punkt ist auch unser Denkapparat ist nicht auf hohe Komplexität vorbereitet. Wenn wir uns schon bildlich, in aller Klarheit und Details keine 1.000 Bananen vorstellen können, wie soll das mit komplexen Systemen gehen die möglichen Zustände in einer Größenordnung von Millionen oder Milliarden gehen?

Für mich ist die Antwort einfach: Es geht nicht. Machen Sie gerne den Test: Stellen sie sich doch kurz den Anblick von Mikrowellen vor. Hat nicht geklappt? Bei mir auch nicht. Wie auch? Da wir diesen Teil der Realität nicht wahrnehmen können, können wir ihn uns auch nicht vorstellen. Er ist da und trotz dieses Wissens darüber, sind wir kaum in der Lage uns ein Bild davon zu machen.

Veraltete Denk-Hardware

Nun ist auch unser Gehirn durch die Evolution geprägt. Sicherlich haben wir ein modernes, hochentwickeltes Großhirn, das es mir unter anderem erlaubt Beitrage zur allgemeinen Verwirrung, wie diesen zu schreiben. Aber wir haben auch evolutionär ältere Gehirnteile, wie den Hirnstamm oder das limbische System. In diesem Teil befindet sich beispielsweise der Sitz unserer Emotionen. Durch die Möglichkeiten, die uns Bildgebende Verfahren heute geben, konnte die Neuro-Wissenschaft zeigen, dass es keine „reine Vernunft“ gibt. Denn an allen Entscheidungen, die wir gefühlt bewusst treffen, sind unsere Emotionen beteiligt. Ja, auch an den „rationalen“ [8]. Es sind Emotionen beteiligt die tief in unseren älteren Hirnregionen schlummern, unbewusst und unkontrolliert.

Getrimmt auf Effizienz

Evolutionär gesehen ist das Gehirn auch immer so eine zwiespältige Angelegenheit gewesen: Es bietet zwar viele Überlebensvorteile, aber es ist auch sehr kostspielig. Bei uns Menschen benötigt dieses doch recht kleine Organ 20% unserer Energie bei nur 2% der Körpermasse. Deshalb haben wir viele Automatismen eingebaut, die es uns erlauben möglichst effizient am Leben zu bleiben. Diese gerne als Heuristiken [8] [9] bezeichneten Denkmuster stellen einfachste Ursache-Wirkungsbeziehungen aus Wahrnehmungen her, ohne, dass uns das als Pilot in der bewussten Kommandozentrale überhaupt auffallen würde. Heuristische Denkmuster führen eben gerade aus Effizienzgründen zu einer Einschätzung, die auf nur wenigen Merkmalen basiert und jeglichen weiterführenden Kontext völlig außer Betracht lässt. Über die Berücksichtigung möglicher Komplexität, will ich hier gar nicht sprechen. Der Vorteil dieses Vorgehens ist aber überlebenswichtig gewesen, denn es spart extrem viel Energie, geht blitzschnell und liefert eine Handlungsanleitung. Das diese nur bedingt optimal ist, ergibt sich von selbst.

In der Psychologie gibt es viele Effekte, die diesen Handel zwischen Aufwand und Nutzen beschreiben. Entscheiden ist immer einem ökonomischen Zwang unterworfen, der unserer Rationalität Grenzen setzt (bounded rationality) und zu Effekten führt, die ein annehmbares Ergebnis erzeugen (Satisficing). In einer Welt, die per se nicht vorhersagbar ist (Unsicherheit) ist die Frage der Ökonomie von einer besonder hohen Bedeutung.

Der Zwang Zusammenhänge herzustellen

Unser Gehirn hat noch eine Eigenschaft, die uns den Umgang mit Komplexität nahezu unmöglich macht. Den leider (zumindest bezogen auf den Wunsch Komplexität zu verstehen) ist es eine Kohärenz-Erzeugungs-Maschine. Wir Menschen haben den angeborenen Drang in den Dingen, die um uns herum geschehen Sinnhaftigkeit herzustellen. Das was wir erleben und spüren zu verstehen und in Einklang mit dem Weltbild zu bringen. Wenn uns ein Unheil geschieht, geben wir uns nur ungern mit dem Zufall zufrieden. Stattdessen suchen wir nach Ursachen und Gründen und kommen zu dem Schluss Gott oder Karma hatte etwas damit zu tun – einfach nur, um diese Lücke in unserer Welt zu schließen.

Was ich damit sagen will: Wir gieren nach Kausalität, oder zumindest Korrelation. Unser Gehirn verlangt, dass unsere Gedankengänge und Entscheidungen einer für uns nachvollziehbaren Logik folgen. Es hinterlässt uns zutiefst unzufrieden, wenn wir unseren Erfahrungen keine passende Einordnung geben können. Dieser Zwang führt dazu, dass wir in das komprimierte Bild der Realität Verbindungen weben, nur um dieses Bild für uns begreifbar zu machen, ganz ungeachtet ob diese wirklich vorhanden sind. Ohne Kausalitätsvermutung, keine geistige Kohärenz und keine Möglichkeit eine Entscheidung herbeizuführen.

Fazit: Komplexität können wir weder wahrnehmen noch denken

Fassen wir die genannten Punkte zusammen komme ich zu dem Schluss, dass es bei der Verarbeitung der komplexen Realität zwangsläufig zu einer massiven Komplexitätsabsorption kommt. Einerseits nehmen wir die Realität bereits extrem komprimiert wahr, andererseits ist unsere Denk-Hardware, als auch das darauf laufende Betriebssystem auf Handlungsfähigkeit und Effizienz getrimmt. Beides keine guten Voraussetzungen Komplexität auf Augenhöhe zu begegnen. Wie soll ich etwas verstehen, dass außerhalb meiner Wahrnehmung liegt, mit Denkvorgängen, die nicht Wahrheit begreifen, sondern Überleben sicherstellen möchten. Und in dieser Gemengelage ist das Begreifen von komplexen Zusammenhängen – so meine ich – stark begrenzt. Ist diese Annahme korrekt ist unsere menschliche „Ausgangs-Varietät“ schon grundsätzlich deutlich geringer, als die komplexe Realität, die wir zu begreifen versuchen.

Entschiedenes Handeln in einer komplexen Welt

Ich stelle daher die Hypothese auf, dass wir Komplexität auf Grund unserer sensorischen und kognitiven „Bewaffung“ mit einem altbekannten Schema begegnen: Der Vereinfachung, oder anders gesagt Einfachheit. Die Antwort moderner Techniken im Umgang mit Komplexität (Agilität und Co.) haben eine auffällige Gemeinsamkeit mit den Werkzeugen der letzten Jahrzehnte: Sie beruhen auf einfachen Handlungsmustern, die darauf abzielen so viel Komplexität aus der Situation zu nehmen wie möglich. Denn erst durch diese Verminderung an Komplexität sind wir wieder in der Lage die für uns notwendigen Kausalitäten, oder zumindest Korrelationen in unserem Bild der Realität einzuordnen. Und erst diese nötigen Ursache-Wirkungsbeziehungen erlauben uns in dieser wahrgenommenen Realität zu handeln.

Versteht mich nicht falsch: Außen ist die Komplexität noch da, aber in uns ist sie das nicht mehr. Und zwar völlig unabhängig davon, ob diese Reduktion nun „richtig war, oder die Realität nur verzerrt und unzureichend für das zu lösende Problem darstellt. Denn zumindest ist diese Reduktion „notwendig“ und drüber hinaus „hilfreich“, da sie es uns entscheidungsfähig macht.

Vereinfachen macht handlungsfähig

Nun hat uns der Weg über die Wahrnehmung bis zu den Einschränkungen unseres Denkens schon viel abgenommen. Die Komplexität der Realität ist bereits in ein kompliziertes Bild überführt. Auf dieser Basis können wir Ursache-Wirkungsbeziehungen, in Form von Korrelationen und Kausalitäten zu vermuten. Die Entscheidungen, Methoden, Prinzipien oder Vorgehen die wir daraus ableiten sind dann am Ende vor allem eines: Einfach.

Blicken wir auf agile Prozessmodelle wie Scrum, OKR, oder kreative Ansätze wie Design Thinking stellen sie alle eine einfache Abfolge von Tätigkeiten dar: „Mache eine Retrospektive, um Ansätze zur Verbesserung der Teamarbeit zu bekommen“ Die grundlegende Vermutung dahinter: Tun wir gewisse Prozzessschritte, erhöhen wir die Wahrscheinlichkeit ein gewünschte Ergebnis zu erhalten. Dies gilt auch für Prozessschritte, die iterativ sind. Denn auch für sie gelten lineare Kausalitätsvermutungen, wie zum Beispiel: In jedem Zyklus verbessern sich die Zusammenarbeit, indem ich eine bewusste Wahrnehmung des Prozesses in der Retrospektive einfordere. Zugegeben sind diese „Prozessschritte“ nicht so deterministisch wie „Ziehe die Schraube mit 30 Nm fest“ oder“Befestige Stecker a in Buchse b“ aber sie sind vergleichbar einfach. Denn Einfachheit eines Prozesses ist eine Notwendigkeit, um handlungsleitend zu sein.

Einfachheit ja, aber nur für begrenzte Zeit

Wir beeinflussen daher die komplexe Wirklichkeit, durch einfache Anweisungen, Prinzipien und Abläufe, die wir auf einem komplizierten Bild der Wirklichkeit aufbauen. In gewisser Weise ist das eine Linearisierung im Arbeitspunkt (Ich grüße alle Ingenieure da draußen). Da nicht-lineare komplexe Systeme für uns nicht vorstellbar sind, ersetzten sie wir durch etwas lineares, das unserer Gedankenwelt zugänglich ist.

Ich habe daher den Eindruck, wir tun Dinge heute nicht viel anders als früher, mit einem Unterschied und dieser ist ganz maßgeblich: Wir wissen um die Veränderlichkeit der komplexen Welt und haben verstanden, dass wir unsere Annahmen und einfachen Handlungsmuster regelmäßig, in ausreichender Frequenz validieren müssen. Denn indem wir unsere einfachen die Zyklen zwischen Wahrnehmen, Entscheiden und Handeln regelmäßig durchlaufen, stellen wir einerseits eine evolutionäre Schleife sicher und zudem einen ausreichend häufige Anpassung unseres vereinfachten Vorgehens. Erkennen wir eine Abweichung ist das Vorgehen anzupassen, auch wenn es danach wieder so einfach und wie zuvor ist. Von daher spricht auch nichts für klassische Prozessmodelle, insofern anerkannt wird, dass eine zyklische Anpassung der bestehenden Prozesse durchzuführen ist, die zur Veränderungsdynamik der Umwelt passt.

Das Dilemma mit der Varietät

Nun könnte man ja sagen, die Agilisten haben recht. Es geht nur durch zyklisches Arbeiten, Retrospektiven, Lernen und eine möglichst hohe Varietät, um in dieser roten Welt zu bestehen. Ich sage: Teilweise! Die eigenen Handlungsmöglichkeiten zu erhöhen, um Komplexität zu begegnen ist notwendig. Doch lehrt uns die Natur, dass Leben nur deshalb existiert, weil es wo nötig, diese Varietät massiv einschränkt. 

Varietät ist der Gegenspieler von Zuverlässigkeit

Nun ist es doch so, dass Komplexität extreme Unsicherheit schafft. Komplexität bedeutet viele mögliche Zustände und Handlungsoptionen in einem System. Ein System kann laut Ashbys Gesetz nur dann mit externer Komplexität mithalten, wenn es selbst ausreichend komplex wird. Indem wir freiere und weniger starre Organisationsansätze wählen, oder kollaborative Arten der Zusammenarbeit zulassen erhöhen wir diese Varietät in der Organisation. Doch wann immer wir durch Selbstorganisation, Netzwerke und Dezentralisierung Freiräumen schaffen und damit Varietät erzeugen werden wir unzuverlässig.

Was meine ich mit Unzuverlässigkeit? Die Varietät eines Systems versteht sich als Zahl der möglichen Optionen oder Zustände. Kann ein System 10 Zustände einnehmen kann man vereinfacht sagen: Jeder Zustand tritt zu 10% ein. Sind es 100.000 mögliche Zustände ist die Wahrscheinlichkeit nur noch 0,001%. Je komplexer ein System wird, desto unwahrscheinlicher ist das Eintreten einer bestimmten Option. Dies ist auch genau die Unsicherheit, die jeder von uns im Umgang mit Komplexität verspürt. Wir können einfach unmöglich erahnen, was genau geschehen wird. Ich sage gerne: „Ich möchte niemals ein agil gebautes Auto kaufen“. Warum? Weil es bei Agilität um das Eröffnen von Optionen geht. Wenn ich ein Auto kaufe erwarte ich als Kunde aber eben genau das nicht. Ich erwarte, dass die Lackfarbe genau den Farbton aus dem Autohaus hat – und keinen anderen. Auch will ich alle meine Ausstattungsoptionen geliefert bekommen und nicht einen Teil davon, weil die anderen aus Zeitgründen nicht mehr realisiert wurden. Ich erwarte eine wiederholbare Qualität – eben Zuverlässigkeit. Je höher also meine Varietät und meine Fähigkeit mit Komplexität umzugehen, desto niedriger meine Zuverlässigkeit in Bezug auf ein ausgewähltes Ergebnis.

Lebewesen sind violette Systeme

Aus dem Blick der Bionik ist dieser Zusammenhang insofern wegweisend, da Leben von vielen häufig aus der Makroebene bewertet wird. Dort ist Leben bunt, vielfältig, mannigfaltig, facettenreich und in seiner Gestalt und Vorkommens nahezu unendlich. Doch ist Leben im Gegensatz zur sichtbaren Welt auf molekularer Ebene vor allem eines: Geordnet – und verdammt zuverlässig.

Leben funktioniert nur deshalb so wunderbar, da alle Vorgänge innerhalb einer Zelle mit einer überragenden Zuverlässigkeit ablaufen. Wohlgemerkt reicht Six-Sigma (6σ) bei weitem nicht aus, um Leben am Laufen zu halten. Ausgehend von der Wichtigkeit für das Überleben der Zelle laufen Stoffwechselprozesse nahezu fehlerfrei ab, da selbst der kleinste Baufehler zu gravierenden Folgen führt. Da in Zellen auch grundlegend kein Unterschied zwischen Wahrnehmung, Entscheidung und Handeln (Signalpfade) und Abbau- oder Herstellung von Struktur (Stoffwechselpfade) besteht kann man sagen: Lebewesen produzieren in höchster Zuverlässigkeit dauerhaft: Inkremente an Wahrnehmungen, Entscheidungen, Organisation/Strukturen und Veränderungen. Denn ein Lebewesen kann es sich schlichtweg nicht leisten diese Vorgänge dem Zufall zu überlassen.

Das Paradoxe hierbei ist: Diese extreme operationale Zuverlässigkeit einzelne lebensnotwendige Inkremente zu erzeugen, erlaubt es einem Lebewesen im Zusammenspiel eine hohe innere Varietät zu erzeugen. Denn es besteht aus extrem zuverlässigen blauen Kreisläufen, die zusammen in roten Netzwerken zusammenwirken. Folglich wird für mich die optimale Organisationsform immer violett bleiben, da Kompliziertheit und Komplexität untrennbare Teile der Wirklichkeit sind. Insbesondere sind beide Teile keine Gegenspieler, wenn es um das Organisieren von lebensfähigen Systemen geht! Und weil das so ist, sind viele „Ansätze der Vergangenheit“ (Lean, Taylor und Co.) nicht obsolet, sondern es wert im Angesicht der „roten Welt“ neu gedacht zu werden.

Der Umgang mit Komplexität

Ja, Komplexität ist da. Wir können sie nicht leugnen. Zuerst sehe ich Komplexität als einen Teil der Welt an, der uns schon immer begleitet hat. Zweitens spricht einiges dagegen, dass wir Komplexität ausreichend gut begegnen können, da wir diese durch unsere Art der Wahrnehmung und des Denkens nur in Teilen begreifen. Auch der Blick in die Funktionsweise des Lebens sagt mir, dass Komplexität durch die Vernetzung „blauer Mechanismen“ funktioniert. Sollten Sie meinen Gedankengängen etwas abgewinnen können, zum Schluss meine gesammelten Ratschläge im Umgang mit Komplexität:

  • Ökonomisch entscheiden: In einer komplexen Welt ist übermäßiges Analysieren und Investieren von Ressourcen kritisch. Weder sollte man spontan-affektiv (eben überstürzt) entscheiden, noch in eine Analyse-Paralyse verfallen. Das Optimum liegt bei ausreichender Geschwindigkeit und vertretbarem Ressourcenaufwand. Da der Ausgang niemals sicher ist, kommt dem ökonomischen Entscheiden eine gesteigerte Bedeutung zu.

  • Bild der Wirklichkeit zeichnen: Stellen Sie schamlos Hypothesen auf, darüber welche Wechselwirkungen sie in einer Situation vermuten. Da jeder Mensch eine andere Realität wahrnimmt, ist es notwendig Hypothesen abzugleichen, wenn Entscheiden und Handeln über Teams, oder Bereiche zu kohärenten Handlungsmustern führen soll. Erst ein besprechbar und teilbar gemachtes Bild der Wirklichkeit kann zu einer Ausrichtung führen, die insbesondere bei großen Organisationen entscheidend ist. Da wir aber ohnehin keine Chance haben die vorhandene Komplexität zu erfassen und in Folge niemals eine ausreichende Varietät erreichen werden, ist wieder die Ökonomie das Maß der Dinge.

  • Bewusst vereinfachen: Begnüge dich mit begrenzter Rationalität: Schließe Logikfehler aus, indem du grundlegende Zusammenhänge des vorliegenden Sachverhaltes analysierst (bspw. Wirtschaftlichkeit einer Investition sicherstellen), versuche aber nicht alles zu quantifizieren und zu bewerten. Mehr Parameter sind nicht besser, sondern führen wahrscheinlich zu nicht zielführendem Analyseaufwand. Deswegen besser mit Ausschlusskriterien, anstelle von Bewertungsfaktoren arbeiten. Auch eine Auswahl an wenigen Faktoren basierend auf den gemachten Hypothesen tun ihren Dienst. Egal wie kompliziert ihr Entscheidungsmodell wird, es wird immer einfacher sein als die Wirklichkeit. Die Frage ist nur, ob es nützlich ist.

  • Nutze das Unterbewusstsein: Die UTT (Unconscious Thought Theorie) kommt zu dem Schluss, dass unsere nicht zugänglichen unterbewussten Gehirnareale komplexe Entscheidungen wohl besser verarbeiten können. Eine Möglichkeit ist es daher Handlungsoptionen bewusst „über Nacht ruhen zu lassen“. Fällen sie dann erst am Folgetag eine intuitive Entscheidung. Eine solche intuitive „Bauchentscheidung“ ist keine spontane Kurzschlussreaktion und häufig besser als „pseudo-rationale“ Beschlüsse, die am Ende ohnehin viel zu oft nur nachträgliche Rationalisierungen unserer emotionalen Vorlieben sind.

Und das allerwichtigste: Bleiben sie locker. Bekommen sie ein für ihre Situation nützliches Bild, stellen Sie Vermutungen an und vereinfachen Sie zur Not auch, um handlungsfähig zu bleiben. Treffen sie Entscheidungen gemäß der Höhe des Risikos, anstelle von nicht endenden Faktensammlungen. Geringeres Risiko erlaubt mehr Vereinfachung und dafür höhere Geschwindigkeit, hohes Risiko sollte niemals fatale Folgen nach sich ziehen. Stillstand ist das sichere Rezept zum Aussterben. Wer sich bewegt hat zumindest eine Chance darauf im Spiel zu bleiben.

Das Leben ist einfacher als wir denken

Life is really simple, but we insist on making it complicated

Konfuzius

Konfuzius war gemeinhin ein kluger Kerl. Wenn ihr mir nicht glaubt, dann ihm. Denn auch wenn man oft hört, die Welt ist in den „letzten Jahrzehnten komplex geworden“ bin ich der Meinung, dass sie das immer schon war. Auch ist sie jetzt nicht auf einmal komplex und nicht mehr kompliziert. Denn in manchen Bereichen ist und wird es weiterhin notwendig sein eine hohe Zuverlässigkeit zu erreichen. Das Verständnis agiler Arbeitsweisen ist wertvoll, um Komplexität zu begegnen, aber sie ist kein Allheilmittel und schon gar nicht kann sie für sich alleine „Lebensfähigkeit“ erzeugen. Die Beherrschung der Komplexität entsteht aus dem Zusammenspiel zuverlässiger Erzeugungsprozesse, die für den Moment passgenau sind und sich in agiler und dynamischer Weise weiterentwickeln. Man kann Komplexität nicht mit dem Loslassen jeglicher Struktur und Ordnung begegnen, da dies mit dem Leben unvereinbar ist. Denn Ordnung ist Leben und Unordnung ist Tod.

Auch wenn ich skeptisch bin, inwiefern wir geistig ausgerüstet sind, um mit der steigenden Komplexität des 21. Jahrhunderts umzugehen, bin ich zuversichtlich: Komplexität ist kein Novum für uns, sondern war schon immer da. Wir müssen daher wie auch bisher einfach mit ihr umgehen. Vielleicht ist Komplexität vergleichbar mit einem wilden Tier, das in den Schatten der Büsche lauert. Wir wissen das es gefährlich sein kann und wir wissen dass es überall lauern kann. Und diese Unsicherheit kann uns Angst machen – begründete Angst womöglich. Doch ist die Frage, wie wir mit dieser Angst umgehen. Denn sie sollte uns nicht davon abhalten Entscheidungen zu treffen, aus Angst vor den Konsequenzen und der Unsicherheit, die mit ihr einhergehen.

Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen ist das, was uns im Leben weiterbringt. Doch auch mit den neuen Mitteln der Agilität wird es bei einem Wettlauf gegen die immer komplexere Welt um uns herum bleiben – Gewinner unbekannt.

Wenn Sie es bis hier hin geschafft haben gebührt Ihnen mein innigster Dank.

Ich habe mehr Stunden benötigt als mir lieb ist, um diesen Artikel zu schreiben und hoffe ein paar Denkansätze geliefert zu haben, die sich für Ihren Alltag als wertvoll erweisen. Ein Dank auch an alle Komplexitäts-Theoretiker, NewWork-Vordenker, Agilisten und andere helle Köpfe, die uns ermöglichen erfolgreicher durch das 21. Jahrhundert zu navigieren. Ihr macht eine tolle Arbeit, auch wenn ich mir einen skeptischen Blick auf diese Entwicklung behalte.

All the love and all the power!

Literaturhinweise und Buchempfehlungen

[1] Conny Dethloff: Logbuch; https://blog-conny-dethloff.de/?p=4759

[2] Ashby, W. R. : An introduction to Cybernetics. Wiley, New York 1956.

[3] Pfläging, Nils; Hermann , Silke (2019): Komplexithoden; redline Verlag, Münchner Verlagsgruppe GmbH [Affiliate-Link: Deutsche Ausgabe] ; Anmerkung: Die Idee der blauen/roten Welt basiert auf dem Modell von Gerhard Wohland ( https://dynamikrobust.com/denkwerkzeuge/ )

[4] Goodsell, David S. (2009): The machinery of life. 2. ed. New York, NY: Copernicus [u.a.]. [Affiliate-Link: Englische Ausgabe | Deutsche Ausgabe] [5] Watzlawick, Paul; Beavin, Janet H.; Jackson, Don D. (2011): Menschliche Kommunikation; 12. unveränd. Aufl., Hans Huber Verlag [Affiliate-Link: Deutsche Ausgabe]

[6] Spector, Bert. 2014. „Using History Ahistorically: Presentism and the Tranquility Fallacy“. Management & Organizational History 9 (3): 305–13. https://doi.org/10.1080/17449359.2014.920261.

[7] Hoffman, Donald D. (2019): The case against reality. Why evolution hid the truth from our eyes. First edition. New York: W.W. Norton & Company. [Affiliate-Link: Englische Ausgabe]

[8] Roth, Gerhard (2017): Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten. Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern. 12. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta. [Affiliate-Link: Deutsche Ausgabe]

[9] Goldstein, D. G. & Gigerenzer, G. (1999). The recognition heuristic: How ignorance makes us smart. In G. Gigerenzer, P. M. Todd & the ABC Research Group (Eds.), Simple heuristics that make us smart (pp. 37-58). New York: Oxford University Press.

[10] Tversky, A. & Kahneman, D. (1973). Availability: A heuristic for judging frequency and probability. Cognitive Psychology, 5, 207-232.

[11] Bargh, John A. (2018): Before you know it. The unconscious reasons we do what we do. Unter Mitarbeit von Gabriele Gockel, Bernhard Jendricke und Peter Robert. London: Windmill Books.
[Affiliate-Link: Englische Ausgabe | Deutsche Ausgabe]

Bionische Analogien zur Gestaltung lebender Organisationen

Zusammenfassung für eilige Leser
Um Organisationen nach den Vorbildern von Lebewesen zu gestalten ist es nötig, sich an den Bauplänen der Biologie zu bedienen. Durch bionische Übertragung biologischer Gesetzmäßigkeiten auf soziale Organisationen stellt sich die Frage, ob diese Übertragungen überhaupt zulässig sind. Diese Frage beantworte ich im Artikel mit „Ja“, da biologische und soziale Systeme eine grundlegende Gemeinsamkeit teilen: Sie laufen nach statistischen Gesetzmäßigkeiten ab. Diese statistische Natur ist gleichermaßen das Unterscheidungsmerkmal von unbelebten zu belebten Systemen.

Den Aufruf moderne Organisationen wie lebende Organismen zu gestalten vernimmt man immer häufiger. Mit einem solchen Bild vor Augen werden häufig agile, selbstorganisierte Organisationen assoziiert, die sich durch eine dezentralere Entscheidungsfindung und den Abbau Hierarchien auszeichnen. Eine Organisation, die gefühlt flüssiger, weniger starr – eben organischer anmutet. Und damit stehen sie ganz im Gegensatz zu den tayloristischen Unternehmensgefügen des 20. Jahrhunderts. Ich frage mich daher, was denn genau das „Organische“ an diesen Ansätzen ist, als Gegenpol zum – „Anorganischen“, das offenbar ausgediente Organisationsformen anhaftet. Wie genau können diese neuen lebenden Organisationsform aussehen?

Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, beginnt die Suche ganz nahe liegend in der Biologie – der wissenschaftlichen Heimat alles Lebenden. Bevor man jedoch beginnt sich lebende Vorbilder für unsere Organisation zu suchen, stellt sich eine viel grundlegendere Frage: Ist es überhaupt zulässig Analogien aus biologischen Vorbildern zu ziehen? Können wir überhaupt biologische Systeme auf soziale Systeme übertragen?

Der bionische Blick in die Blaupausen des Lebens

Sobald wir von der Natur lernen möchten, betreten wir das Spielfeld einer der bekanntesten Analogiemethoden – der Bionik. Der Reiz sich an den Errungenschaften der Schöpfung zu orientieren liegt auf der Hand: Die Ergebnisse der Evolution, ob wir nun über Lebewesen oder ganze Ökosysteme sprechen, haben allesamt einen unvergleichlichen Optimierungsprozess durchlaufen. Jedes Lebewesen wurde durch unzählige „Trail and Error“-Versuche zu nahezu vollkommener Perfektion gebracht. Möchten wir uns zur Gestaltung unserer Organisation in diesem beispiellosen Fundus bedienen, können wir dies auf dreierlei Weise tun:

  • Zu aller erst können wir uns konkrete Ergebnisse der Evolution zum Vorbild nehmen. Dieser bionische Blick hat uns bereits Reißverschlüsse, Tragflächen oder auch mit Lotus-Effekt beschichtete Dachziegel beschert.
  • Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass wir uns am Prozess der Evolution selbst bedienen. Hierbei geht es darum die Optimierungsverfahren selbst, die zu den Ergebnissen der Schöpfung geführt haben für unsere Zwecke nutzbar zu machen. Nutzbare Anwendungen dieser bionischen Form des Lernens finden wir heute in Form von Algorithmen, die biologische Wachstumsregeln oder Populationen und deren Selektion simulieren.
  • Der dritte Weg ist die Übertragung von grundlegenden Prinzipien der belebten Natur. Dies sind beispielsweise das Übertragen von Selbstorganisation, Adaptivität oder Modularität, die in vielerlei Form in der Natur beobachtet werden können [2][4].

Um zu operationalisierbaren Ansätzen zur Gestaltung von Organisationen zu gelangen, bietet sich aus meiner Sicht insbesondere der dritte Weg an: Das Übertragen natürlicher Erfolgsprinzipien. Die bisherigen systemtheoretischen Ansätze der Kybernetik, wie das Viable System Model (VSM) von Stafford Beer, autopoetische Systeme nach Maturana und Varela bis hin zur Luhmannschen Theorie sozialer Systeme orientiert sich auf diese Weise an der Natur. Das VSM stellt hierbei womöglich einen Hybriden zwischen den bionischen Ansätzen dar, da es sich zudem am gegenständlichen Aufbau eines Nervensystems orientiert und damit auch den ersten Weg der Analogienfindung beschreitet [1]. Auch sind viele agile Organisationsansätze der letzten Jahre wie „Fail-fast“, oder das Verändern in „Experimenten“ anstelle geplanter Vorhaben, ein Abbild des evolutionären Prozesses.

Eine grundlegende Herausforderung bei der bionischen Übertragung auf andere Bereiche ist die Überlegung, inwiefern die gefundene Analogie zulässig ist? Von einem biologischen System kommend stellt sich die Frage, ob soziale Systeme ausreichend ähnlich sind, um vom einen auf das andere zu schließen? Dieser Frage kommt insbesondere eine große Bedeutung zu, wenn man sich, so wie meine Kollegen mit einem unüblichen Beobachtungsobjekt beschäftigt. Zur Definition unseres bionischen Organisation-Systems übertragen wir den kleinsten gemeinsamen Nenner alles Lebenden: Die Zelle.
Warum das eine so bestechende Wahl ist, habe ich in einem meiner früheren Artikel erläutert.

Durch unsere Wahl die Zelle als Baustein lebender Systeme zu übertragen, befinden wir uns in der Sphäre der Molekularbiologie. Doch gerade die Wissenschaft der Molekularbiologie operiert in einem spannenden Grenzbereich der Biologie: Sie ist das Bindeglied zwischen der Welt des Unbelebten (Anorganischen) und der Welt des Lebenden (Organischen). Denn obwohl die Molekularbiologie auf den mechanistischen Grundgesetzen der Physik und Chemie basiert, ist das was sie letztendlich hervorbringt das Phänomen des Lebens. Und dieses Leben – das nehme ich gleich vorneweg – ist alles andere als deterministisch, wie Physik und Chemie es sind.

Vom Unbelebtem zum Lebenden

Doch wie kann das sein, dass ein molekularbiologisches System, das auf den kausalen Regeln der Physik basiert, nicht selbst nach rein kausalen Zusammenhängen funktioniert?
Denn mit physikalischen und chemischen Naturgesetzen ist das so eine Sache: Was auch immer passiert es ist vorherbestimmt. Physikalische und chemische Gesetze beschreiben klipp und klar das Zusammenspiel von Materie und Energie:  Werfe ich einen Stein, kann ich dessen Flugbahn, Aufprallkraft und beliebige andere Größen berechnen. Alle Zusammenhänge sind vorhersagbar und werden immer genauer je mehr physikalische Größen ich dabei berücksichtige, beginnend mit der Lufttemperatur, Luftfeuchtigkeit bis hin zum Strömungskoeffizienten des Steines. Das Gesamtsystem „geworfener Stein“ ist nämlich nur kompliziert, und es kann vollständig durch die Beschreibung seiner Einzelteile in seiner Gesamtheit erfasst werden.

Diese kausalen Zusammenhänge gelten auch für die zugrunde liegende Chemie der Zelle: Moleküle in einer Zelle besitzen eine physische Form, bewegen sich mit einer Geschwindigkeit und sind somit klar an die festen Gesetze von Zeit und Raum gebunden. Ihr physisches Fortkommen wird durch die Regeln der Diffusion beschreiben. Vergleichbar stringent verhält es sich mit den chemischen Reaktionen innerhalb der Zelle: Es ist klar festgelegt welche Moleküle, wie genau miteinander reagieren können und wie viel freie Energie hierfür nötig ist oder durch ihre Reaktion frei wird. In den physischen und chemischen Vorgängen gibt keinen Freiheitsgrad darüber wie das Ergebnis aussieht.

Angesichts dieser Tatsachen könnte man tatsächlich auf die Idee kommen, das alles Leben vorherbestimmt ist. Denn insofern eine Zelle nicht „mehr“ als einer Aneinanderreihung von chemischen Vorgängen ist bleibt sie in ihrer Summe kompliziert. Kein Freiheitsgrad würde erklären weshalb Leben so mannigfaltig, variantenreich und vor allem unvorhersehbar ist. Diese „physikalische“ Sicht der Welt würde das Phänomen Leben tatsächlich zu einer Maschine degradieren. Und zwar ganz im klassischen Sinne mit Zahnrädern, Wellen und Riemen – einem biologischen Apparat ohne Freiheitsgrad.

Die Welt der Physik und Chemie beschreibt das Verhältnis von Materie und Energie in Form natürlicher Gesetze: Energieerhaltung, Thermodynamik, Bindungskräfte und wie sie alle heißen. Die Naturgesetze geben klar vor, wie sich Moleküle „zu verhalten“ haben. Was die Naturgesetze hingegen nicht beschreiben ist die Information, die jedem Molekül dieses Universums innewohnt. Denn auch jedes unbelebte Molekül eines lebenden Systems transportiert für das System relevante Information. Information darüber wie es mit anderen Molekülen reagieren kann (chemische Komplementarität), als auch Informationen durch die Zusammensetzung von Molekülen [7]. Durch die Anordnung unbelebter Moleküle zueinander entsteht unser genetischer Code, der Information über die Bauweise und Funktionalität des Gesamtsystems enthält . Es ist daher die Grundlage alles Lebendigen, dass jedes Molekül einer Zelle Materie-, Energie- und Informationsträger zugleich ist.

Denn es gibt kein Naturgesetz das beschreibt, wie aus tausenden Molekülen bestehende Proteine zusammengesetzt werden. Genau diese für das Leben kritischen Information über den Bau aller höheren Strukturen der Zelle sind nicht von den physikalischen Gesetzen abgedeckt. Man könnte sagen, es interessiert die Physik und Chemie nicht, wie Zellen diese komplizierten Gebilde zusammensetzen oder in welcher prozessualen Abfolge sie chemische Reaktionen geschehen lässt. Zumindest solange nicht, solange Zellen sich dabei an die vereinbarten Spielregeln halten. Wir wissen bis heute nicht was dazu geführt hat, dass diese Information in der uns vorliegenden Form zueinander gefunden hat: Durch einen schöpferischen Akt, puren Zufall oder evolutionäre Entwicklung. Doch ist dieses auf Information basierende Zusammenspiel der Moleküle in einer Zelle die Ursache für die Komplexität des Systems. Denn anders als die chemischen Elementarprozesse folgen die Vorgänge der anorganischen Chemie keinen deterministischen Spielregeln mehr. Durch die Kopplung von tausenden von Molekülen zu biologischen Maschinen (Proteine) entsteht ein Grad an Komplexität der eine absolute Sicherheit ausschließt.

Stattdessen folgen die lebenserzeugenden Abläufe innerhalb von Zellen Wahrscheinlichkeiten: Bei der Interpretation der genetischen Information können Fehler passieren. Ein Ribosom kann beim Bau eines Proteins durchaus einmal eine strukturell ähnliche Aminosäure verbauen [3]. Obwohl bei diesen Abläufen Fehler passieren, ist nicht einmal zwingend gesagt, dass das Ergebnis absolut unbrauchbar ist. Organische Abläufe erzeugen Ergebnisse von defekt, vermindert in seiner Funktion bis hin zu schädlich für das Gesamtsystem. In Folge ist auch Zusammenspiel verschiedenster Signal- und Stoffwechselpfade, die alle nach statistischen Gegebenheiten ablaufen, kein festgelegtes Bühnenstück mehr. Stattdessen sind die Interaktionen und Abhängigkeiten zwar höchstwahrscheinlich, aber in letzter Instanz nicht mehr absolut sicher.

Doch das wirft ein Problem auf! Denn potentiell tödliche Fehler dürfen in den Abläufen nicht geschehen, oder das System geht zu Grunde. Damit ein System lebensfähig bleibt, ist es daher zwingend notwendig, dass die Wahrscheinlichkeit aller beteiligten Vorgänge ausreichend hoch ist. Und genau hier kommt die operationale Zuverlässigkeit ins Spiel. Eine hohe operationale Zuverlässigkeit der systemischen Abläufe ist auch das Bindeglied zu anderen lebenden Systemen – darunter auch sozialen Systemen.

Die Zuverlässigkeit des Zusammenspiels aller Elemente sorgen für die Funktionalität des Systems

Doch was genau meine ich mit der operationalen Zuverlässigkeit?          
Dieser Tatbestand findet sich bereits in der aus der Beobachtung des Lebenden hervorgegangenen Definition autopoetischer Systeme von Maturana und Varela [5]. Der Begriff autopoetische Systeme stammt aus dem Altgriechischn autos „selbst“ und poesis „schöpferische Tätigkeit“ . Diese Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre eigene Organisation ständig selbst erzeugen. Organisation meint hier genau das Schaffen der benötigten Strukturen und Elemente des Systems, die im komplexen Zusammenwirken die Dynamik des Systems bedingen. In der Zelle sind das alle Moleküle und Proteine, die diese Zelle benötigt, um ihre unzähligen Stoffwechselpfade auszuführen. Maturana und Varela verwenden in diesem Kontext auch häufig den Begriff der autopoetischen Maschine.
Der Begriff Maschine ist für mich ein auffälliger Hinweis auf die operationale Zuverlässigkeit: Bei lebenden Systemen geht es darum dauerhaft, sich wiederholende Abläufe zu reproduzieren – und zwar mit hoher Qualität – eben zuverlässig. Eine Maschine ist nichts anderes als ein Werkzeug, das dazu geschaffen wurde, ein bestimmtes Produkt zu erzeugen – in diesem Fall eben sich selbst. Auch zeichnen sich Maschinen dadurch aus dies nicht nur manchmal, unvollständig oder fehlerhaft zu tun, sondern zuverlässig.   

Da Leben basiert also auf dem dauerhafte Reproduzieren von sich selbst erzeugenden Abläufen. Daher ist es zwingend notwendig, dass diese Abläufe mit einer hohen Zuverlässigkeit ablaufen.  Nur wenn ein Vorgang den nächsten zuverlässig auslöst entsteht eine dauerhafte Dynamik, die den Fortbestand des Systems ermöglicht. Diese Anschlussfähigkeit ist es auch, die Niklas Luhmann bei der Beschreibung seiner Theorie sozialer Systeme verwendet. Nur wenn ein Vorgang (er verwendet den Begriff Operation) den nächsten Vorgang bedingt entsteht ein System. Der Abbruch von Vorgängen, sprich das Ausbleiben eines Anschlussvorganges, führt zum Erliegen des Systems [6].

Somit ist Leben elementar gesehen nichts anders als durch Information gesteuerte Abläufe von chemischen Reaktionen. Auf eine chemische Reaktion folgt die nächste und immer so weiter.  Je zuverlässiger diese Reaktionen verlaufen, desto eher ist das System in der Lage fort zu bestehen. Die Organisation des Systems sorgt also dafür, dass die nötigen Bausteine vorhanden sind und diese korrekt miteinander verbaut werden. Fehler dürfen passieren, aber nur wenn dies nicht zum Erliegen der Ablaufkette führt. Je wichtiger ein Ablauf für das Überleben ist desto zuverlässiger muss er ablaufen. In jeder Zelle finden mehrere Millionen chemische Reaktionen statt und das pro Sekunde. Entsprechend hoch ist die statistische Wahrscheinlichkeit auf Erfolg von weit über 99,999x %. Und nicht nur das: Die Natur hat sogar unterschiedliche Reparatur- und Qualitätssicherung-Mechanismen installiert, die dafür sorgen, dass essenzielle Abläufe, wie die Zellteilung (Mitose) nahezu fehlerfrei ablaufen [8].

Operationale Zuverlässigkeit ist auch für soziale Systeme systemrelevant

In sozialen Systemen ist das auch nicht anders: Nehmen wir an ihre Organisation stellt einen neuen Elektro-Ingenieur ein. Bei der Rollenbeschreibung ihres neuen Kollegen bringt die Organisation die Erwartungen an die Durchführung dieser Rolle durch den neuen Stelleninhaber ein. Beginnt ihr neuer Kollege dann völlig entgegen aller Erwartungen diese Rolle mit Youtube-Streaming, bis zur Schmerzgrenze ausgedehnten Mittagsspaziergängen und fehlerhaften Berechnungen zu füllen, geht die Anschlussfähigkeit von Vorgängen verloren. Zumindest sind die Folgevorgänge nicht so, wie sie die Organisation erwartet hat. Anstelle von produktiven Anschlussvorgängen, werden Personalgespräche mit dem Chef oder aufgeheizte Kaffeeeckengespräche der Kollegen angeschlossen. Die niedrige Zuverlässigkeit, in der die Vorgänge jetzt ablaufen, sind nicht mehr in dem Maße gegeben als sie für den Fortbestand des Systems nötig wären.
Das ist natürlich ein überspitztes Beispiel. Es gilt aber gleichwohl für jegliche Art von Unzuverlässigkeit in Geschäftsprozessen, die ein System nachteilig beeinflussen. Vom defekten Arbeitsgerät, einer wartungsintensiven Maschine bis hin zur schwankenden Gefühlslage des Abteilungsleiters, welche die Prozesszuverlässigkeit in ungesundem Maße beeinträchtigt. Selbst für kreative und innovative Tätigkeit gilt dieser Zusammenhang. Methoden wie Design Thinking beruhen ebenfalls auf der Annahme, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass dem Prozess ein zweckmäßiger Gedanke entspringt. 

Es ist also systemtheoretisch gesehen ganz unerheblich ob ein unbelebtes Molekül oder eine Person dazu führt, dass ein Prozess nicht wie beabsichtigt abläuft. Es geht nur um die statistische operationale Zuverlässigkeit der Prozesse in die das Systemelement eingebunden ist. Denn ungeachtet dessen, ob wir über fehlerhaften Prozessketten in Zellen beispielsweise durch Mutation oder defekte Arbeitsmittel sprechen, die Häufigkeit von nicht systemerhaltenden Abläufen macht den Unterschied in der Lebensfähigkeit aus. Je zuverlässiger Abläufe und Systemelemente funktionieren, desto wahrscheinlicher ist der Fortbestand des Systems. Auf einer abstrakten Ebene betrachtet unterschieden sich Stoffwechselprozesse von Zellen und Lebewesen und Geschäftsprozesse von Unternehmen also nicht. Beide Prozessketten funktionieren nur wenn Materie und Energie im ausreichenden Maße vorhanden sind (Naturgesetze) und wenn sie statistisch sicher, also zuverlässig funktionieren (Information).

Lebendige Organisationen nach biologischen Vorbildern. Ja, bitte!

Ich bin davon überzeugt, dass der nächste evolutionäre Schritt für Organisationen sein wird, sich am Vorbild der Natur zu orientieren. Die Natur hat die Fragen der Komplexität, Kollaboration und der optimalen Ressourcennutzung bereits umfassend gelöst. Sie selbst sind das beste Beispiel für 100 Billionen symbiotische Kooperationen, die ihre Zellen tagtäglich leisten. Insbesondere bin ich angetan von der Idee sich dabei nicht nur auf naheliegende Analogien wie Tier zu Organisation zu versteifen, sondern sich an den grundlegenden Eigenschaften aller lebenden Organismen zu orientieren.

Bei der Übertragung ist man jedoch gut beraten die richtige Flughöhe einzunehmen: Es ist sicherlich nicht zielführend sich auf ein zu hohes Detaillevel zu begeben, um Analogien zu finden. Insbesondere in der Molekularbiologie macht es wenig Sinn, sich an eine 1:1 Übersetzung der 20 essenziellen Aminosäuren zu machen und analog 20 elementare Bausteine der Organisation zu suchen. Hingegen ist der dahinter steckende Modularisierungsgedanke, der im Aufbau aller lebenden Strukturen steckt, einen genaueren Blick wert.

Ich hoffe jedoch es ist anschaulich geworden, dass die Übertragung von biologischen Systemen und deren evolutionäre Prinzipien nicht zwingend eine unzulässige Trivialisierung von sozialen Systemen darstellen muss. Dies gilt gleichwohl, wenn man sich mit den fundamentalen Prinzipien des Lebens beschäftigt, die an der Grenze zur unbelebten Welt liegen. Denn beginnend mit den Rahmenbedingungen unseres Universums (Naturgesetze) bis hin zu statistischen Abläufen, teilen beide Arten von komplexen Systemen vergleichbare Wirkungsprinzipien. Hingegen kann die Organisationsbionik einem keinen Aufschluss über gute Führung, menschliches Miteinander und andere Aspekte des sozialen Lebens geben. Sicher ist nur, dass all diese Faktoren ebenso vorhanden sein müssen, um Systeme zuverlässig und damit überlebensfähig zu gestalten.

Lebe lang und erfolgreich!

Literaturhinweise und Buchempfehlungen

[1] Beer, Stafford (1995): Brain of the firm. 2. ed., reprinted. Chichester: John Wiley & Sons (The managerial cybernetics of organization). Seite 73-129 [Affiliate-Links: Englische Version]
[2] Cerman, Zdenek; Barthlott, Wilhelm; Nieder, Jürgen (2007): Erfindungen der Natur. Bionik – Was wir von Pflanzen und Tieren lernen können. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt-Taschenbuch-Verl. (rororo science, 62024). Seite 259 [Affiliate-Link: Deutsche Version]
[3] Christen, Philipp; Jaussi, Rolf; Benoit, Roger (2016): Biochemie und Molekularbiologie. Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum. Seite 12 [Affiliate-Link: Deutsche Ausgabe]
[4] Gleich, A. von; Pade, C.; Petschow, U.; Pissarskoi, E.: Bionik. Aktuelle Trends und zukünftige Potenziale. Seite 18-26 [Link]
[5] Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (1980): Autopoesis and Cognition: D. Reidel Publishing Company. Seite 78
[6] Simon, Fritz B. (2018): Einführung in die systemische Organisationstheorie. 6. Auflage. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag (Carl-Auer compact). Seite 22-28 [Affiliate-Link: Deutsche Ausgabe]
[7] Shapiro, James Alan (2013): Evolution. A view from the 21st century. 1. print. with corr. Upper Saddle River, NJ: FT Press Science. [Affiliate-Link: Englische Version]

Überleben in einer veränderlichen Umwelt – Lernen von den Champions

Leben existierst seit 3.8 Milliarden Jahren

Unsere Erde ist etwa 4.5 Milliarden Jahre alt. Seither haben sich die Lebensbedingungen auf unserem blauen Planeten wiederholt von Grund auf verändert. Immer und immer wieder wurde das aufblühende Leben über die Zeitalter der Erdgeschichte vor eine Vielzahl an Herausforderungen gestellt: Eiszeiten, Vulkanausbrüche und Meteoriteneinschläge von katalytischen Ausmaßen. Diese katastrophalen Veränderungen tilgten die weniger anpassungsfähigen Arten vom Antlitz unseres Planeten. Mehr als einmal stand alles Leben an der Schwelle seiner Auslöschung, da sich die Umwelt radikal innerhalb kürzester Zeit veränderte.

Über mehr als 3 Milliarden Jahre unserer Erdgeschichte waren Einzeller nahezu unter sich. Erst vor einem erdgeschichtlich kurzen Zeitraum von etwa 600 Millionen Jahren, stießen die mehrzellige Lebewesen hinzu. Zu diesen dürfen auch wir uns zählen. Viele den dazugekommen Arten sind mittlerweile wieder ausgestorben, da sie sich nicht an die sich ändernden Anforderungen anpassen konnten. Nur die Prototypen des Lebens – Zellen – bevölkern weiterhin und unbeirrt, auch die unwirtlichsten Regionen auf unserem Planeten: Von lichtlosen Tiefen, kochend heißen Quellen bis hin zu den arktischen Polarzonen. Seit fast 4 Milliarden Jahren überleben sie als Einzeller, Mehrzeller oder auch als Grundbaustein eines jeden höheren Lebewesens.
Auf Grund dieser beeindruckenden Erfolgsgeschichte sind Zellen die Champions im Überleben!

Organisationen nach dem Vorbild des Lebens gestalten

Mein Kollege Clemens Dachs hat vor 6 Jahren eine Disziplin ins Leben gerufen. Diese Disziplin beschäftigt sich seither damit die molekular-biologischen Prinzipien von Zellen auf einer systemischen Ebene zu interpretieren. Die bisher gewonnen Erkenntnisse geben uns weitreichende Einsichten darüber, wie Organisationen es meistern können, die eigene Überlebensfähigkeit in einer sich stets veränderlichen Umwelt zu erhöhen. Tagtäglich arbeiten in unserem Körper mehr als hundert Billionen Zellen in perfekter Harmonie reibungslos zusammen. Durch das Verständnis wie diese Zusammenarbeit in derartiger Komplexität dennoch funktioniert, können Unternehmen vieles darüber lernen was Kollaboration bedeutet. Die Natur hat viele der Fragen, die wir uns heute im Kontext der Komplexität unserer schnelllebigen Welt stellen, bereits mit unvergleichlicher Eleganz gelöst.

Ich beschäftige daher mit neu gedachten Organisationssystemen für Unternehmen jeder Größe, die nach kontinuierlicher Weiterentwicklung, Anpassungsfähigkeit und reibungsloser Kollaboration streben. Dazu nutze ich bewährte Methoden aus Lean, Agile, Theory of Constraints und Projekt- und Programm-Management und ordne diese neu an, um die Prinzipien lebender Systeme in Organisationen zu etablieren.

Dieser Artikel ist leicht modifiziert am 15.Juli 2019 auf LinkedIn erschienen: https://www.linkedin.com/pulse/%C3%BCberleben-einer-ver%C3%A4nderlichen-umwelt-lernen-von-den-moritz-hornung/