Organisationsbionik

Organisationsbionik – Organisationen nach dem Vorbild der Natur gestalten

Zusammenfassung für eilige Leser
Es gibt eine Vielzahl an Erklärungsmodellen für Organisationen, aus der Soziologie, Psychologie oder den Betriebswirtschaft. Einen vielversprechenden Blick liefert der Blick in die Natur. Der Artikel erklärt, wie Bionik für organisatorische Fragestellungen gelingen kann und welche bekannten Ansätze von natürlichen Vorbildern inspiriert wurden.

Organisationen verstehen

Unternehmensorganisationen lassen sich auf vielfältige Art und Weise begreifen: Für Soziologen ist sie das Ergebnis eines Zusammenspieles aus sich selbst erzeugender Kommunikation. Der Betriebswirtschaftler denkt klassisch an den Dualismus aus Aufbau – und Ablauforganisation. Also einmal Kästchen von oben nach unten (Hierarchie) und einmal Kästchen von links nach rechts (Prozesse). Der Organisationspsychologe hingegen blickt auf den Kontext der Organisation und seine Auswirkungen auf das Handeln des Individuums.

Sicherlich gibt es noch viele andere Denkschulen, die sich mit der Frage befassen, wie Organisationen zu verstehen sind. Denn eines ist allen gemein: Sie liefern nur einen eng gefassten Blick auf Organisationen, der für sich sicher richtig ist, jedoch das große Ganze einer sozialen Organisation niemals einfangen kann. In diesem Artikel beleuchte ich welchen Beitrag die Organisationsbionik liefern kann, um uns zu einem gesamtheitlichen Verständnis von Organisationen helfen kann.

Was ist Organisationsbionik?

Den Begriff Bionik haben die meisten Menschen wohl schon gehört – irgendetwas mit Natur. Genau: Bei der Bionik handelt es sich um die Wissenschaft zur Lösung technischer Probleme nach dem Vorbild der Natur. Wir alle kennen technische Erfindungen, die ursprünglich aus der Ideenkiste von Mutter Natur stammen: Klettverschluss, Lotus-Effekt, Sonar oder Flugzeugtragflächen. In jüngster Vergangenheit lernen wir aber nicht nur Bauprinzipien abzuschauen, sondern auch natürliche Abläufe zu nutzen: Leichtgewichtbauteile werden nach dem Wachstum des Schleimpilzes am Computer erzeugt. Der Reiz der bionischen Forschung ist offenkundig: Alles, was wir in der Natur beobachten können, ist durch Jahrmillionen natürlicher Auslese verfeinert und perfektioniert worden. Damit sind natürliche Vorbilder in einem Reifegrad angekommen, den technische Innovationen sonst nicht liefern können.

Ist es bei all den technischen Durchbrüchen nicht naheliegend, dass die Natur uns auch etwas darüber beibringen kann, wie Organisationen gestaltet werden sollen? Genau dieses Teilgebiet ist die sogenannte Organisationsbionik. Sie versucht organisatorischen und gesellschaftlichen Fragestellungen anhand der Beobachtung der Natur zu beantworten.

Gefahren und Chancen der Organisationsbionik

Wir alle kennen weitverbreitete Beispiele wie Bienenschwärme und Wolfsrudel. Doch inwiefern lassen sich die Herausforderungen moderner Organisationen in einer digitalisierten Welt durch Erkenntnisse aus der Beobachtung von Tieren lösen?

Ich halte diese Skepsis für gerechtfertigt. Ich bin überzeugt, dass Analogien aus der Natur immer mit Bedacht behandelt werden sollen. Denn die zugrunde liegende Annahme ist ja, dass wir eine Ähnlichkeit zwischen den beiden Betrachtungsgegenständen (also z. B. einem Bienenschwarm und Abteilung) unterstellen. Ist diese Ähnlichkeit nicht gegeben, begehen wir einen Fehlschluss, der keinen Mehrwert liefern kann. Gut, abgesehen von einem gewissen Unterhaltungswert natürlich. Denn die Natur schreibt zweifellos spannende Geschichten und liefert schillerndes Anschauungsmaterial.

Es ist offensichtlich: Bei der Organisationsbionik werden zwangsweise unterschiedliche Objekte und Phänomene miteinander verglichen, deren Ähnlichkeit bezweifelt werden darf. Die Kunst ist es also, sich weniger auf offensichtliche Ähnlichkeiten zu stützen, sondern abstrakte Wirkprinzipien zu erkunden, die eine ausreichende Gültigkeit für beide Objekte besitzen. Amüsant, denn auf diese Gefahr wird sogar von staatlicher Seite hingewiesen: das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag warnt sogar vor naiven Analogien und Sozialdarwinismus bei der Übertragung von natürlichen Beobachtungen auf gesellschaftliche Fragen [1].

Wie kann man von der Natur lernen?

Um bewusster mit den Grenzen der Analogienfindung umzugehen, wenden wir uns kurz den Arten des bionischen Lernens zu, das auf dreierlei Art erfolgen kann [2]:

Erstens: Das Lernen von den Ergebnissen der Evolution

Dies ist die klassische Domäne der Bionik. Es werden Ergebnisse, sprich Lebewesen, Phänomene und Strukturen beobachtet und auf technische Lösungen übertragen. Das mag bei technischen Anwendungen problemlos funktionierten, birgt im Rahmen der Organisationsbionik doch erhebliche Gefahren. Denn bei einer technischen Innovation wird versucht, das natürliche Vorbild exakt nachzubilden, indem physikalische Strukturen nachempfunden werden. Die notwendige Ähnlichkeit zur Übertragung ist hier nicht Grundvoraussetzung, sondern Ziel des Vorhabens.

In der Organisationsbionik hingegen kann es aber kaum die Absicht sein, die natürliche Struktur des Bienenschwarms exakt nachzuempfinden. Niemand würde ernsthaft versuchen ein möglichst vergleichbares Sozialgefüge zu installieren. Das funktioniert allein deshalb schon nicht, da die für die Zielorganisation konstituierenden Elemente einander nicht ähnlich sind: Bienenschwärme bestehen aus Königinnen, Arbeiterinnen und Drohnen, menschliche Organisationen hingegen aus Menschen.

Zweitens: Das Lernen vom Evolutionsprozess

Hier geht es darum, den Prozess der Evolution selbst zu nutzen, sprich Verfahren und Algorithmen zu entwickeln, die auf Selektionsmechanismen á la Darwin basieren. Da es hier bereits um „Wie“ anstelle von „Was“-Fragestellungen handelt, bin ich der Meinung, dass diese auch für organisatorische Fragestellungen nutzbar sind. Dass die darwinsche Idee einen universellen Charakter hat, der weit über biologische Fragestellungen hinaus Antworten liefert, ist heute anerkannt [3]. Evolutionsalgorithmen sind deshalb heute bereits verbreitet, wenn es um Optimierungsprobleme geht, denen man durch wiederholte Selektion versucht anzunähern. Lose übertragen kann man den verbreiteten Deming-, oder auch PDCA-Zyklus zur Prozessoptimierung hier einordnen: Denn nach jeder Veränderung (Mutation) in Form der Do-Phase, folgt eine Check-Phase, in der die tatsächlichen Ergebnisse evaluiert werden. Sind diese nicht ausreichend gut, wird der Lösungsansatz selektiert und ggf. eine neue Optimierungsrunde eingeleitet (Act-Phase)

Drittens: Das Lernen von den Prinzipien der Evolution

Die dritte Art des Lernens geht es um die Nutzbarmachung grundlegender Prinzipien der Natur, wie z. B.: Selbstorganisation, Autopoiesis, Rekursion oder der Modularität. Aus meiner Sicht ist diese Art des Lernens ein Sonderfall der ersten Methode, indem man sich auf die Zusammenhänge und Interaktionen bei der Beobachtung von natürlichen Vorbildern fokussiert – dem „Wie“. Denn aus einem Verständnis der Abläufe lassen sich abstrakte Prinzipien ableiten, die wiederum breiter übertragbar sind. Ich persönlich halte die Gewinnung von natürlichen (Erfolgs-)Prinzipien für sehr ergiebig, da mir meine mittlerweile fast 10 Jahre andauernde Lernreise eines gezeigt hat: Das natürliche Prinzipien zwingende Notwendigkeit besitzen – und zwar für alle lebenden Systeme (und Organisationen).

Beispiele für organisationsbionische Ansätze

Im Folgenden habe ich eine ausgewählte Liste an mir bekannten Organisationsansätzen zusammengetragen. Die Reihenfolge ist grob chronologisch von alt zu neu erfolgt. Vermutlich werden Sie auch überrascht sein, den einen oder anderen Ansatz hier zu finden, da dessen Begründer sich sicherlich nicht als Organisationsbioniker verstehen würde. Außerdem kommentiere ich kurz, wie viel Inspiration aus der Natur Einfluss in den jeweiligen Ansätzen steckt. Eine fehlende Übertragung vom natürlichen Vorbild ist selbstredend kein Kriterium für fehlende Wirksamkeit sein, ist aber damit keine bionische Analogie im engeren Sinne mehr.

Viable System Model von Stafford Beer

Bereits in den späten 1960er-Jahren formuliert, ist das Viable System Model (abgekürzt VSM) das älteste Management-System nach dem Vorbild der Natur [4]. Erfunden vom Management-Kybernetiker Stafford Beer ist das VSM ein generisches Referenzmodell für jede Art von Organisation, mit dem Gedanken, diese überlebensfähig zu machen. Beer spricht selbst davon, dass das VSM dem menschlichen Zentralnervensystem nachempfunden ist. Das VSM teilt das zu steuernde System in fünf Subsysteme ein, die alle einen bestimmten Beitrag zum lebensfähigen Gesamtsystem liefern. Man erkennt hier deutlich, dass Beer einen operativen Managementhintergrund hatte. Die fünf Systeme von Produktion bis hin zum Management, wirken eher wirtschaftswissenschaftlich als biologisch. Trotz seines Alters hat das VSM bis heute überdauert, wird erfolgreich angewandt und hat unter anderem auch das St. Gallener Management-Modell maßgeblich beeinflusst.

Nun, das VSM ist sicherlich nicht zu Unrecht in dieser Liste. Doch ist es aus meiner Sicht weniger bionisch angehaucht, als es den Anschein macht. Die Ähnlichkeiten zu einem menschlichen Nervensystem sind als anekdotisch einzustufen. Denn sie beziehen sich häufig eher auf anatomische Ähnlichkeiten („Was“) anstelle der Funktionalität („Wie“). Das mag auch am begrenzten Wissen über die Wirkungsweise unseres Nervensystems Mitte des letzten Jahrhunderts liegen. Auf der anderen Seite finden sich natürliche Prinzipien wie die Rekursion oder Autopoiesis darin wieder, die aus dem Repertoire der Natur kommen. Praktisch liefert es aus meiner Sicht sehr hilfreiche Ansätze zur Strukturierung und Gestaltung von Organisationen, gerade wenn es darum geht Organisationseinheiten mit einem optimalen Handlungsspielraum auszustatten (siehe auch [5]).

Eine Abschlussbemerkung: Obwohl ich ein echter Fan des VSM bin, ist gerade der Name des Modells irreführend: Viable System Modell, also überlebensfähiges Systemmodell. Doch wie auch viele andere Denker, die durch die kybernetische Denkschule des 20. Jahrhunderts beeinflusst wurden, konnte Beer mit seinem Model nicht die Lebensfähigkeit von Organisationen erklären. Denn das wäre so, als ob man behauptet, ein Nervensystem ist überlebensnotwendig. Das würde Pilzen, Bäumen und anderen einzelligen Lebewesen aber sicherlich Unrecht tun, die hervorragend ohne diese Einrichtung zurechtkommen.

Systemtheorie nach Niklas Luhmann

Ja, vermutlich ist der eine oder die eine überrascht, die Systemtheorie nach Niklas Luhmann hier zu finden, doch ich habe dafür meine Gründe. Herr Luhmann ist ja dafür bekannt, über Jahrzehnte einen recht umfassenden Erklärungsansatz für die Beschreibung von komplexen sozialen Organisationen (oder Systemen) verfasst zu haben. Nicht nur hat er erkannt, dass die Differenz zwischen Dingen notwendig ist, um überhaupt etwas erkennen zu können und definiert Systeme als die Differenz seiner Umwelt. Ein System hat demnach unterscheidbare Eigenschaften gegenüber seiner Umwelt, die in der Beziehung zwischen seinen Elementen zu finden sind. Diese Beziehung ist die Kommunikation bzw. Interaktionen innerhalb einer sozialen Organisation. Kommunikation erzeugt wiederum neue Kommunikation usw. wodurch das soziale System „am Leben bleibt“. Und an dieser Stelle ist Luhmanns Blick in die Natur offenkundig: Denn Luhmann verwendet den Begriff der Autopoiesis, die ein zentrales Prinzip der Systemtheorie ist und interpretiert ihn im Sinne der Sozialwissenschaften [7]. Denn Autopoiesis bezeichnet die sogenannte Selbsterzeugung (griech. autos = selbst und poiesis = erzeugen) von Lebewesen und lebenden Systemen und wurde erstmals durch die Biologen Humberto Maturana und Franceso Varela geprägt [8]. Luhmanns Erkenntnis: Soziale Systeme verarbeiten kontinuierlich Sinn und operieren auf Basis von Kommunikation, während Biologische materielle Ressourcen verarbeiten und auf Basis von physikalisch-chemischen Prozessen operieren. Beide sind somit auf ihre Art autopoietisch.

Luhmann hat mit der Integration des biologischen Prinzips der Autopoiesis eine Ähnlichkeit zwischen Lebewesen und sozialen Organisationen gezogen. Er ging sogar so weit zu sagen, dass nichts in der Soziologie Sinn ergebe, betrachte man es nicht im Lichte der Autopoiesis [6]. Ich werte das als Anerkennung dafür, dass soziale Organisationen im übertragenen Sinne virtuelle Lebewesen sind. Damit gehört die luhmannsche Systemtheorie in meinen Augen zurecht auf diese Liste, von der Natur inspirierter Ansätze.

Synergetik von Herman Haken

Die Synergetik ist die interdisziplinäre Theorie der Selbstorganisation, die in der Natur in vielfacher Weise beobachtet werden kann, bspw. beim Wachstum von kristallen Wellenstrukturen, Wolkenmuster, Dünen bis hin zur Zellbildung. Die Synergetik ist in den 1970er-Jahren aus der statistischen Physik der Nichtgleichgewichtssysteme hervorgegangen und behandelte zunächst nur physikalische Systeme. Ziel ist es, Prinzipien der natürlichen Selbstorganisation in dynamischen, komplexen Systemen zu ergründen, z. B. die durch die Wechselwirkung gleicher Elemente innerhalb dieser Systeme entsteht. In bionischer Manier überträgt die Synergetik seit ihrer Begründung physikalische Beobachtungen auf anderen Wissenschaftsdomänen wie der Soziologie, Psychologie, aber auch der Managementlehre [9].

Die Synergetik liefert damit einen bionischen Erklärungsansatz für die Ausprägung von Selbstorganisation im Organisationsumfeld. Anstelle starrer hierarchischer, sollen flache veränderliche Organisationsstrukturen folgen, die durch verteilte Intelligenz Entscheidungen treffen. Durch die Wahl der richtigen Ordnungsparameter durch eine höhere Instanz, soll das Management geeignete Ausgangsbedingungen für die Selbstorganisation im Unternehmen schaffen.

Zellstruktur-Design von Nils Pfläging und Silke Hermann

Das Zellstruktur-Design verspricht ein modernes Managementsystem bzw. Open Source Sozialtechnologie nach dem Vorbild der Zelle [10]. Der Ansatz verbindet eine Vielzahl an 12 Beta-Kodex und 12 Zellstruktur-Design-Prinzipien. Ich bin der Meinung, dass die Prinzipien für sich alle nicht grundlegend falsch, aber losgelöst voneinander sind. Insbesondere fällt auf, dass der Ansatz und seine Prinzipien aber außer einer augenscheinlichen Ähnlichkeit mit einer Zelle, keine tiefergehenden Übertragungen enthält. Die wenigen Ähnlichkeiten sind der Übertragung von anatomischen Strukturen („Was“) entsprungen, was wie eingangs beschrieben im Kontext von Organisationen nicht zielführend ist. Das eine Zelle rund ist, und ein Innen und Außen hat stimmt zwar, jedoch ist die Lernmöglichkeit daraus für Organisationen überschaubar. In seiner Gesamtheit ist für mich der Zellstruktur-Design-Ansatz eher ein Potpourri moderner Managementphilosophie von Selbstorganisation bis hin zur Agilität.

Sonstiges: Fraktale, Bienenwaben und andere Organisationsmodelle

Vor einiger Zeit titelte ein Artikel der Corporate Rebels: „10 progressive Organisationsstrukturen, die von echten Unternehmen entwickelt wurden“ [11]. Spannend war dabei für mich, dass davon die Hälfte nach Strukturen benannt worden sind, die in der Natur vorkommen, darunter: Amöben, Zellen, Fraktale, Bienenwaben und Gittermuster.  Sobald man dann in die Beschreibungen der einzelnen Organisationsstrukturen eintauchte, stellte man fest, dass die Benennung nach ihrem natürlichen Vorbild eher erzählerischem Ursprung ist. Denn egal ob Amöben, Fraktale oder Bienenwaben immer ging es darum, dass es kleinere (mehr oder weniger) autonome Einheiten im Unternehmen gab. Diese selbstorganisierten Einheiten waren gegenüber dem Gesamtunternehmen klein (5 bis 50 Mitarbeiter), und selbst für ihre Profitabilität verantwortlich. Bionisch betrachtet ist auch die Zelle eines Lebewesens eine autonome lebensfähige Einheit. Zellen sind jedoch im Verbund (als Teil eines Organismus) zumeist stark spezialisiert und somit nur in Symbiose mit dem restlichen Zellverbund lebensfähig ist. Je nachdem ob die genannten Organisationseinheiten also miteinander als Ganzes operieren oder (z. B. wie bei Kyoceras Amöben) autonom und im Wettstreit bleibt die bionische Analogie fragwürdig. Auch Insektenschwärme, die gerne als Super-Organismen bezeichnet werden gibt es keinen inneren Wettbewerb zu beobachten. Folglich ist anzunehmen, dass die Namensgebung dieser Organisationsmodelle eher zufällig ist und weniger von einer überlegten Übertragung aus der Natur herrührt.

Viable Business von Clemens Dachs

Die Eigenschaft aller lebenden Systeme (Lebewesen und Organisationen), sich selbst zu erzeugen, ist die Autopoiesis. Sie ist für Leben zentral, denn ohne Autopoiesis kein Wachstum und ohne Wachstum kein Leben. Doch beschäftigt man sich eingehender mit der Autopoiesis stellt fest, dass diese von den Vordenkern des letzten Jahrhunderts nicht erklärt werden konnte.

Im Jahre 2013 wurde von Clemens Dachs Idee geboren, dass Organisationen doch wie Lebewesen funktionieren müssten. Denn Lebewesen haben viele positive Eigenschaften, die sich Unternehmen heute wünschen: Schnelles Wachstum, inneres Gleichgewicht und eine über Jahrmilliarden bewährte Anpassungsfähigkeit. Doch anstelle sich mit ausgewählten Lebensformen zu beschäftigen, wählte Dachs einen bisher eher ungewöhnlichen Beobachtungsgegenstand: die Zelle. Denn egal ob Mensch, Tier, Einzeller oder Pflanze auf molekularer Perspektive ist jede Lebensform gleichartig aufgebaut. Die Zelle ist der kleinste gemeinsame Nenner des Lebens. Wirkliche Lebensfähigkeit von lebenden Systemen kann also nicht mit einem Nervensystem (vgl. VSM) erläutert werden, sondern indem man die molekularbiologischen Dynamiken jeder Art von Leben entschlüsselt. Es geht somit nicht darum, die Struktur der Zelle zu verstehen, sondern die zugrundeliegende Funktion, die Autopoiesis bedingt („Wie“). Die These dahinter: Sind die funktionalen Wirkprinzipien verstanden, sollten diese sich auch auf andere lebende Systeme, wie Organisationen übertragen lassen.

Die Ergebnisse der Forschungs- und praktischer Anwendungsarbeit führten Dachs 2020 zur erfolgreichen Dissertation über „Viable Project Business – A Bionic Management System for Large Enterprises“ [12], 2021 zu unserem gemeinsamen Business-Roman „Zellkultur“ [13] und in diesem Jahr zu einem kleinen, kurzweiligen Theoriebüchlein, „Autopoiesis“ genannt [14]. 

Gegenstand all dieser Werke ist die Beschreibung eines bionischen Management-Systems, dass auf logisch aufeinander aufbauenden Prinzipien beruht. Und zwar fundamentalen Wirkprinzipien, die im Zusammenspiel die lebensfähige Dynamik erzeugen, die Autopoiesis überhaupt erst ermöglicht. Die spannende Erkenntnis: Lebewesen sind nur in ihrer Gesamtheit im Gleichgewicht (Homöostase), weil ihre gesammelten inneren Abläufe selbstverstärkend, also exponentiell ablaufen (Katalyse). Was erstmal wie ein Paradoxon klingt, ist der grundlegende Bauplan des Lebens, der Leben physikalisch überhaupt erst möglich macht. Denn Clemens Dachs Theorie beginnt ganz unten: bei der Betrachtung der physikalischen Rahmenbedingungen unseres Universums. Denn diese Notwendigkeiten brachten in Folge die lebendige Dynamik hervor, die wir unverändert seit Jahrmilliarden in Zellen aller Art vorfinden.

Mit meiner Hilfe übersetzten und implementierten diese Beobachtungen in den letzten Jahren, um diese praktisch in Unternehmen nutzbar zu machen. Dabei zeigte sich Erstaunliches: Selbst Erfolgsprinzipien verbreiteter Managementansätze wie Lean, Agile und Theory of Constraints, lassen sich in lebenden Zellen wiederfinden. Sie sind, richtig kombiniert, Bausteine einer wachstumsfördernden Dynamik. Es ist also denkbar, dass der bionische Funktionsplan des Lebens eine geeignete Landkarte ist, um bekannte und erfolgreiche Methoden der Unternehmensführung, zu einem widerspruchsfreien Ganzen zusammenzufügen.

Aus Sicht der Bionik ist der Dachse Ansatz ein fundierter Versuch, vom „Wie“ des Lebens zu lernen, um Organisationen lebensfähig in einer sich veränderlichen Umwelt zu gestalten. Durch das erstmalige Verständnis der Autopoiesis selbst, können Unternehmen ihr Wachstum fördern, indem sie die nötigen Dynamiken nach dem Vorbild der Natur erzeugen. Damit bietet der Ansatz das Potenzial, die Denkweise darüber, wie Organisationen verstanden werden, grundsätzlich zu revolutionieren.

Und was kommt nach der Analogie?

Alles was gegen die Natur ist hat auf Dauer keinen Bestand.

-Charles Darwin

Ich bin der Überzeugung, Darwins Zitat bringt es auf den Punkt. Die Natur ist so ideenreich, wie genial. Seit Milliarden von Jahren schafft sie Organisationsformen in einer unvorstellbaren Komplexität und Vollkommenheit. Ich glaube daher, dass es sich lohnt, wieder ganz genau hinzusehen. Hinzusehen, um die verborgenen Geheimnisse der Natur zu entschlüsseln und für eine neue Generation der Unternehmensführung nutzbar zu machen. Eine Generation an Unternehmen, die sich die unumstößlichen Naturprinzipien aller lebenden Systeme zu eigen macht, um bessere Organisationen zu schaffen – und zwar für Mensch und Natur.

Denn jedes System, dass sich nicht im Einklang mit seiner Umwelt befindet, wird früher oder später vergehen. Und das gilt es für jedes lebende System, auch Organisationen tunlichst zu vermeiden.

P.S.: Ich biete Organisationsentwicklung auf Basis moderner Organisationsbionik an, um unternehmerische Herausforderungen zu lösen. Mehr dazu hier: Home

Literaturhinweise

[1] A. von Geich, C.Pade, I. Petschow, E. Pissarskoi (2007) Bionik: Aktuelle Trends und zukünftige Potentiale
[2] https://rp-online.de/leben/beruf/was-manager-von-woelfen-lernen-koennen_aid-11304637
[3] D.C. Bennet (1995): Darwins’s dangerous idea [Link] http://www.inf.fu-berlin.de/lehre/pmo/eng/Dennett-Darwin’sDangerousIdea.pdf
[4] S. Beer (1995): Brain of the firm
[5] M. Pfiffner: Die dritte Dimension des Organisierens: Steuerung und Kommunikation
[6] Luhmann, Baecker (2017): Einführung in die Systemtheroie
[7] D. M. Rodríguez, J. N. Torres:  Autopoiesis, die Einheit einer Differenz: Luhmann und Maturana; abrufbar unter: https://publications.iai.spk-berlin.de/servlets/MCRFileNodeServlet/Document_derivate_00001130/BIA_116_079_108.pdf
[8] H. Maturana, F.J. Varela (1980): Autopoiesis and Cognition
[9] H. Haken, G. Schiepek (2010): Synergetik in der Psychologie: Selbstorganisation verstehen und gestalten
[10] N. Pfläging, S. Hermann (2020): Zellstruktur-Design
[11] https://corporate-rebels.com/progressive-organizational-structures/
[12] C. Dachs (2021) Viable Project Business – A bionic Management System for Large Enterprises
[13] C. Dachs, Moritz Hornung (2021): Zellkultur – Ein Business-Roman über bionisches Organisationsdesign [mehr dazu hier: business-surivalist.com/zellkultur-business-roman]
[14] C. Dachs (2022): Autopoiesis

Moritz Hornung

2 Kommentare
  1. Peter Ueberfeldt
    Peter Ueberfeldt sagte:

    Guten Tag Herr Hornung,
    Ihre Ausführungen finde ich weitgehend übereinstimmend mit meinen eigenen Einsichten. Ich teile Ihre Ansicht, dass wir uns konsequenter wissenschaftlicher Erkenntisse bedienen sollten, um unsere Wirklichkeit zutreffender zu interpretieren. Die von Ihnen zitierten Quellen sind mir auch vertraut. Meine weiteren diesbezüglichen Lernreisestationen sind Erich Jantsch, David Bohm, Ernst Mayr, Ilya Prigogine, Arie de Geus, Hans-Peter Dürr, Klaus-Stephan Otto. Soweit die wesentlichen. Ich denke, diese sind Ihnen auch bekannt. Einen Aspekt in Ihren Ausführungen habe ich erwartet, aber nicht erwähnt gefunden: Emergenz. Ich stelle mir vor, dass Leben eine emergente Eigenschaft und Fähigkeit ist. Übertragen auf Organisationen finde ich die Frage spannend: Auf welchen Ebenen (Person, Team, Organisation) muss Leadership welche Gelingensbedingungen schaffen, dass diese Eigenschaft Leben emergieren kann? Was denken Sie darüber?
    Viele Grüße
    Peter Ueberfeldt

    Antworten
    • Moritz Hornung
      Moritz Hornung sagte:

      Hallo Herr Ueberfeldt,

      danke für ihre wertvollen Gedanken. Ich teile Ihre Überlegungen, dass Leben ein emergentes Phänomen ist. Ich nutze häufig das zugegeben etwas makabere Beispiel des Frosches im Mixer. Der Forsch im Mixer ist ein Lebewesen, kein Zweifel. Drückt man den Knopf befindet sich dort ein rotgrüne Masse, die diese Eigenschaft verloren hat. Der Punkt ist: Die Moleküle sind unverändert. Es befinden sich die gleiche Anzahl im Gefäß, sie sind nur anders angeordnet. Es kommt also folglich nicht auf die Bausteine an sich an, aus denen Leben entspringt, sondern aus ihrem Zusammenspiel. Leben ist chemisch gesehen nichts anderes als eine Kette anschlussfähiger chemischer Reaktionen. Diese Dynamik entspringt aus der Ordnung der Moleküle zueinander (Katalyse etc.), die wiederum in der Lage ist neue Ordnung zu erzeugen, die wiederum für die nötige Dynamik sorgt usw. In Folge entsteht „Stoffwechsel“ und solange dieser andauert lebt das System auch.
      Bezogen auf Organisationen arbeite ich ähnlich, unabhängig davon auf welcher Rekursionsebene ich unterwegs bin. Es geht darum für Aktivitäten, die essentiell für die Organisation sind optimale Bedingungen zu schaffen, dass diese nahezu spontan, mit geringem Aufwand und vor allem zuverlässig (anschlussfähig!) abläuft. Das entspricht der Schaffung von Katalysatoren als zentrales Kriterium für die Organisationsentwicklung. In unserem Buch oder auf dieser Seite finden Sie noch mehr dazu.

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