Katalyse – Grundlage aller lebenden Systeme

Zusammenfassung für eilige Leser
Leben wie wir es kennen ist nur möglich, da die Natur sich einzigartige Prinzipien geschaffen hat. Einer davon ist die Katalyse. Durch sie ist Leben auf molekularer Ebene überhaupt in der Lage alle chemischen Reaktionen so beschleunigt und effizient ablaufen zu lassen, um der Unordnung des Universums zu widerstehen. Spannenderweise kann man dieses Wirkungsprinzip auch in erfolgreichen Management-Methoden wie Lean oder der Theory of Constraints beobachten.

In diesem Artikel beschäftigen wir uns mit dem ersten Prinzip lebender Systeme: Der Katalyse. Im Laufe dieses Artikels werden wir die Frage klären was biologische Katalyse ist und welches Problem lebender Systeme Mutter Natur gelöst hat. Denn ohne Katalyse wäre Leben so wie wir es kennen nicht denkbar. Katalyse ist somit ein notwendiges Kriterium, um Lebensfähigkeit zu erreichen. Nachdem wir dieses wichtige Prinzip erläutert haben, packen wir die bionische Brille aus und stecken ab, was die Übertragung der Katalyse auf Organisationen bedeutet.

Am Anfang war die Reaktion

Leben ist in seinen grundlegenden Wesenszügen eine unaufhörliche Abfolge einander bedingender chemische Reaktionen. Hier wird eine chemische Bindung aufgebrochen, deren Moleküle sofort in der nächsten chemischen Reaktion weiterverarbeitet werden. Ein unaufhörlicher Kreislauf an chemischen Abläufen, die in vernetzten Kreisläufen dafür sorgen, dass Ordnung entsteht.

Nun ist das mit der Ordnung so eine Sache. Unser Universum ist nicht der Platz, indem Ordnung die oberste Priorität genießt. Vielmehr noch ist es ja so, dass Ordnung im Sinne von Struktur, Unterschied in Konzentration (von Teilchen) oder Wärmegefällen ein Zustand ist, der mit jeder Sekunde weniger wird. Unser Universum und in Folge auch jede Struktur darin strebt danach sich energetisch möglichst gleichmäßig zu verteilen. Diese in der Physik Entropie genannte Kraft sorgt dafür, dass alle Energie irgendwann in weiter Zukunft homogen verteilt ist. Der sogenannte Wärmetod des Universums, indem alles zum Erliegen kommt, da es keine Unterschiede mehr gibt, die irgendeine Art von Bewegung verursacht. Ein kurzes Video zur Entropie findest Du hier: https://www.youtube.com/watch?v=s9xH2H1yGzQ

In einem Universum, dass Unordnung und Chaos zum Zielzustand erhebt ist Ordnung sozusagen nur ein temporärer Zustand. Ein Zustand dessen Aufbau und Erhaltung Energie benötigt. Schon Erwin Schrödinger schrieb in seinem bemerkenswerten Buch „Was ist Leben“ über lebende Organismen „Leben ist der einzige Ort im Universum in dem aus Chaos Ordnung entsteht“ [1]. Was auf den ersten Blick ein Widerspruch gegen die Gesetzte der Thermodynamik ist, ist in Wirklichkeit ein gekonnter Schachzug der Natur die physikalischen Hürden zu überwinden, überhaupt leben zu können. Indem Lebewesen Unordnung in ihrer Umgebung erzeugen (Körperwärme), reichern sie Ordnung innerhalb ihrer Grenzen an.

Das Problem bei der Erzeugung von ordnenden Strukturen ist es, dass man freie Energie benötigt. Eine Zustandsänderung von Unordnung zu Ordnung bindet immer Energie bspw. in Form von chemischen Reaktionen und zur Überwindung von molekularen Kräften. Sie kennen das aus ihrem Garten: Die Unordnung kommt von ganz allein, Ordnung zu schaffen benötigt Zeit und Energie [2]. Auch räumt sich der Desktop ihres Notebooks nicht von allein auf. Wenn Sie dafür nicht bewusst Aufmerksamkeit – also in Folge Zeit und Energie aufwenden, wird Chaos die unweigerliche Folge sein. Alle Dateien verteilen sich Die hochkomplexen aus tausenden Molekülen bestehenden Proteine benötigen Energie und natürlich Materie, um aufgebaut zu werden. Und da Proteine die Arbeitsmaschinen für so gut wie alles innerhalb einer Zelle sind, müssen sie andauernd gebaut und gewartet werden. Doch zufällig entsteht das nicht, eben weil die nötigen chemischen Reaktionen energetisch ungünstig sind, sprich freie Energie benötigen. Und da dieser Energiebedarf zu hoch wäre, um die dazugehörigen Reaktionen in hoher Zahl und dauerhaft auszuführen, hat die Schöpfung die Katalyse erfunden – einen raffinierten Trick, um diese Hürde der Physik zu umgehen.

Enzyme, die Katalysatoren lebender Systeme

Das Zauberwort heißt: Enzyme. Oder auch Bio-Katalysatoren. Diese bemerkenswerten Gebilde, überwiegend Proteine besitzen zwei bemerkenswerte Eigenschaften. Einerseits setzten Sie die Aktivierungsenergie hinab, wodurch die gewünschte chemische Reaktion mit weniger Energieaufwand, also effizienter ablaufen kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese also energetisch geschieht ist stark erhöht.

Außerdem beschleunigen Sie die chemische Reaktion um atemberaubende Faktoren von bis zu 10^14, sprich 100-billionen-fach [3]. Indem jedes Enzym auf eine ganz bestimmte chemische Reaktion spezialisiert ist, sind Enzyme in der Lage die benötigten Ausgangsstoffe zielsicher zu detektieren und umzuwandeln.
Eine katalysierte chemische Reaktion läuft also effizienter und dramatisch schneller ab, als dies in der freien Natur der Fall wäre. Und diese Kombination aus Effizienz und Geschwindigkeit erlaubt es überhaupt, die Reaktionsnetzwerke zu formen, die lebende Organismen ausmachen. Denn Leben funktioniert nur so lange eine Reaktion direkt an die vorherige anschließt – und zwar ohne Verzögerung. Jede noch so kleine chemische Reaktion trifft innerhalb eines lebenden Systems daher zwingend auf eine nahezu ideale Reaktionsumgebung, da sie sonst so gut wie niemals stattfinden würde. Da jedes Produkt einer solchen Reaktion Ausgangsmaterial für die nächste Reaktion zugleich ist, setzen lebende Systeme eine selbstverstärkende Schleife in Gang! Diese beschleunigt sich selbst immer weiter, bis sie an eine Hürde von Raum und Zeit stößt: Die Ressourcen- und Energieverfügbarkeit, die auf Grund von Transportzeiten und räumlicher Ausdehnung natürlich begrenzt sind.

Die Enzyme sind folglich die „Möglichmacher“ aller lebender Systeme. Spannend ist auch, dass eine grundlegende Eigenschaft lebender Systeme, die Selbsterzeugung ist. Diese auch Autopoiesis genannte Eigenschaft sagt aus, dass jedes Element innerhalb eines lebenden Systems selbst geschaffen wird [4]. Lebende Systeme müssen daher ihre Beschleuniger selbst erzeugen, die ihnen wiederum ermöglichen erst alle Reaktionen ausreichend effizient und schnell ablaufen zu lassen.

Optimale Arbeitsbedingung durch Arbeitsvorbereitung

Jetzt, da wir die Katalyse grundsätzlich verstanden haben können wir eine Brücke in den geschäftlichen Alltag bauen. Wenn lebende Systeme darauf beruhen, dass jede Reaktion ideale Bedingungen vorfindet, dann sind Organisationen, die lebensfähig sein möchten, ebenfalls dazu angehalten [5]:
Lebende Organisationen müssen jedem Geschäftsprozess ideale Ablauf- bzw. Arbeitsbedingungen schaffen. Trifft Material und Energie auf eine ideale Ablaufumgebung, dann wird der Prozess mit maximal möglicher Effizienz und höchster Geschwindigkeit durchgeführt. Da auch in Unternehmen jeder Geschäftsprozess Teil einer Prozesskette und von Prozessnetzwerken ist, beschleunigt sich dieser Kreislauf selbst, bis er an die Grenze der Ressourcenverfügbarkeit stößt. Diese Grenze im Gesamtnetzwerk ist der Engpass des Systems.

Blicken wir auf die Management-Ansätze der vergangene Jahrzehnte fällt auf, dass dieses grundlegende Prinzip – wenn auch unwissentlich – bereits vielfach adressiert wurde:

Toyota Production System bis hin zu Lean Management
Die aus dem japanischen Toyota Production System entsprungene Lean-Bewegung hat zum Kern Wesentliches vom Unwesentlichen zu trennen [6][7]. Verschwendung zu vermeiden und nur wertschöpfendes in den Prozessen übrig zu lassen. Das Problemlösungs-Werkzeug Ishikawa oder auch Fischgrät-Diagramm, zeigt auf welche Faktoren fehlen oder unzureichend sind und daher ein Prozessproblem verursachen. Methoden wie 5S zielen ebenfalls darauf auf nicht-benötigtes aus der Wirkungsumgebung der Akteure zu entfernen. In Summe reduziert ein kontinuierliches Arbeiten an Verbesserungen und in Frage stellen des Bestehenden (Kaizen) Hinderliches und Überflüssiges (sog. muda) und führt damit zu effizienteren Prozessen.
Die agile Bewegung
Auch wenn der Ansatz anders ist versuchen auch diverse agile Methoden die Prozessgeschwindigkeit zu erhöhen, indem man die administrativen Bürokratie hinter sich lässt und Teams auf das wesentliche fokussiert: Die Arbeit am Kundennutzen. In Stand-Ups wird mittels Kanban-Boards oder anderen flussoptimierten Arbeitswerkzeugen dran gearbeitet die Prozessgeschwindigkeit zu erhöhen, bei Minimierung des Aufwandes. Regelmäßige Retrospektiven räumen Stück um Stück alles das an Prozessbedingungen aus dem Weg was hinderlich ist und fördern gleichwohl das Festhalten an Funktionierendem.
Die Engpass-Vermeidungs-Philosphie der Theory of Constraints
Schneller und effizienter durch Fluss im System ist das Ziel der Theory of Constraints. Durch die Priorisierung des einen systemischen Engpasses, arbeitet sie schrittweise daraufhin den Gesamtdurchsatz eines Systems zu erhöhen [8]. Mehr Durchsatz bedeutet mehr Produkte in geringer Zeit bei gleichbleibenden Produktionsmitteln. Die Anwendung der TOC im Multi-Projektportfolio Umfeld ist unter dem Begriff Critical Chain Project Management bekannt [9]. Auch hier bekommen Projekte nach Möglichkeit exklusive Bearbeitungszeiten, während sich Projektleiter und Führungskräfte darum kümmern anstehende Arbeitspakete optimal vorzubereiten bevor sie begonnen werden. Eine optimale Vorbereitung ist nichts anderes als die Schaffung idealer Arbeitsumgebung, sobald die „Reaktion“ beginnt [10].

Was im Produktionsumfeld völlig normal erschient wird oft im administrativen Arbeitsalltag vergessen: Arbeitsvorbereitung ist unerlässlich. Erst wenn wir egal ob als Einzelperson, oder als Team alle nötigen Eingangsunterlagen, Informationen und eine erstklassige Arbeitsumgebung vorfinden beginnt die Arbeit zu fließen. Der vielzitierte Flow-Zustand, indem die Zeit wie im Fluge zu vergehen scheint und man zu geistiger Höchstform ausläuft, tritt nicht ein, wenn man im Minutentakt gestört oder abgelenkt wird. [11]

Das Äquivalent für Unternehmenskatalysatoren sind optimale Arbeitsbedingungen. Und optimale Arbeitsbedingungen stellen sich nicht zufällig ein. Wie auch in der Natur sind hierfür kontinuierliche und ordnende Vorgänge nötig, die diese vorteilhafte Reaktionsumgebung erzeugen.

Ordnung schneller erzeugen als sie verfällt

Wie eingangs beschrieben besteht die Kunst eines lebenden Systems oder auch Unternehmung darin, schneller Ordnung zu erzeugen als sie durch Einflüsse der Umwelt zerstört wird.

Wir kennen das schon im Kleinen, wenn wir an unsere Inbox oder unsere Dateiablage denken. Steigt die Anzahl der Mails sprungartig an oder bekommen wir vom Chef spontane Aufgaben und Termine in den Kalender gelegt steigt die Unordnung. Chaos breitet sich aus und führt zu immer schlechteren Ausgangsvorrausetzungen für alles was folgt: „Wo war noch gleich diese Mail? Ich habe das doch in Ordner xyz abgelegt?“ Bringe ich hingegen kontinuierliche und mit höchster Priorität Ordnung in mein System, bspw. durch regelmäßige Reviews wird die Ordnung auch in „entropischen Zeiten“ erhalten oder sogar noch verbessert. Indem wir den Überblick behalten oder anstehende Arbeiten sorgfältig vordenken, erhöhen wir die Umsetzungszeit rapide. Er bei jedem Thema auf der To-Do-Liste erstmal überlegt wie er das angeht und wo er die fehlenden Informationen herbekommt, der erreicht nichts.

Die Schaffung von optimalen Arbeitsbedingungen ist essentiell

Bevor wir über die komplexen Zusammenhänge von lebenden Systemen und Organisationen sprechen, die sich aus der Zusammenwirkung von einzelnen Elementen ergeben muss sich unser Blick auf etwas viel Grundlegenderes richten: Die Schaffung optimaler Arbeitsbedingungen. Diese Fähigkeit eines Systems diese Bedingungen selbst zu erschaffen und zu erhalten ist die zugrundeliegende Dynamik alles Lebens. Ohne Katalyse, sprich perfekte Reaktionsumgebungen ist leben nicht denkbar. Deshalb gilt gleichermaßen ohne perfekte Arbeitsbedingungen für Prozesse ist eine lebensfähige Organisation nicht vorstellbar. Gerade in den dynamischen Zeiten des 21.Jahrhunderts, müssen Organisationen in der Lage sein ihre Ordnung dauerhaft und gleichwohl anpassungsfähig selbst zu erzeugen.
Diese Fähigkeit ist ein selbstverstärkender Kreislauf, der tief im „Maschinenraum“ des Unternehmens wirkt.

Vielen Dank fürs Lesen. Lebe lang und erfolgreich!

Literaturhinweise und Buchempfehlungen

[1] Schrödinger, Erwin; Mazurcak, L.; Fischer, Ernst Peter (2011): Was ist Leben? Die lebende Zelle mit den Augen des Physikers betrachtet. 11. Aufl., ungekürzte Taschenbuchausg. München: Piper. [S.21] [Affiliate-Links: Deutsche Ausgabe]
[2] Alberts, Bruce; Schäfer, Ulrich; Häcker, Bärbel (2011): Molekularbiologie der Zelle. 5. Aufl. Weinheim: Wiley-VCH. [S.90-91] [Affiliate-Link: Deutsche Aussgabe 6. Auf.]
[3] Christen, Philipp; Jaussi, Rolf; Benoit, Roger (2016): Biochemie und Molekularbiologie. Eine Einführung in 40 Lerneinheiten. Berlin, Heidelberg: Springer Spektrum. [S.47-50] [Affiliate-Link: Deutsche Ausgabe]
[4] Maturana, Humberto R.; Varela, Francisco J. (1980): Autopoesis and Cognition: D. Reidel Publishing Company. Seite 78 [Affiliate-Link: Englische Ausgabe]
[5] Dachs, Clemens (2020): Viable Project Business (unveröffentlicht)
[6] Ohno, Taiichi (1988): Toyota production system. Beyond large-scale production. Portland, Or: Productivity Press. [Affiliate-Link: Englische Ausgabe]
[7] Womack, James P.; Jones, Daniel T. (2004): Lean thinking. Ballast abwerfen, Unternehmensgewinne steigern. [Erw. und aktualisierte Neuausg.]. Frankfurt am Main, New York: Campus-Verl. (Management) [Affiliate-Link: Englische Ausgabe | Deutsche Ausgabe]
[8] Goldratt, M. Eliyahu (2013): Das Ziel. 5 (erweiterte Auflage). Frankfurt, M, New York, NY: Campus-Verlag. [Affiliate-Link: Englische Ausgabe | Deutsche Ausgabe]
[9] Goldratt, Eliyahu M. (2002): Die kritische Kette. Ein Roman über das neue Konzept im Projektmanagement. Frankfurt/Main, New York: Campus-Verlag. [Affiliate-Link: Englische Ausgabe | Deutsche Ausgabe]
[10] Techt, Uwe (2015): Projects That Flow. Mehr Projekte in kürzerer Zeit : die Geheimnisse erfolgreicher Projektunternehmen. Dritte, überarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart: Ibidem-Verlag (QuiStainable business solutions, Band 1). [Affiliate-Link: Deutsche Ausgabe]
[11] Csikszentmihalyi, Mihaly; Stopfel, Ulrike (2014): Flow im Beruf. Das Geheimnis des Glücks am Arbeitsplatz. 1. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. [Affiliate-Link: Deutsche Ausgabe]


Moritz Hornung

2 Kommentare
  1. Wolfram Müller
    Wolfram Müller sagte:

    Danke für den Artikel …
    … bei mir als alter #TOC Hase arbeitet es jetzt natürlich – denn die Frage was ist der Katalysator ist ja spannend. Goldratt wurde mal gefragt, was der Kern der TOC ist und wie er es sagen würde wenn er nur ein Wort hätte – rausgekommen ist „FOCUS“ … vielleicht ist das der Katalysator – die 5 Fokusschritte – denn die spaaren die eigentliche Energie und Kraft und so können die Produkte schneller enstehen, Reibung reduziert werden und eben neu auch die Changes im Organismus selbst beschleunigt werden!

    Super super super Danke für diese Idee!

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  1. […] Verhalten erzeugt veränderte, hoffentlich verbesserte Ergebnisse. Mein Artikel über die Katalyse beschreibt, weshalb dieses Wirkungsprinzip fundamental wichtig ist. Reflektieren wir dieses […]

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